51 || Immer noch unausstehlich

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Auf dem Schulhof stellte ich fest, dass Dereck, Glenn und Kris in sicherer Entfernung standen und uns genaustens beobachteten. In mir breitete sich ein merkwürdiges Gefühl aus, aber irgendwie gab es mir auch Sicherheit, denn wenn Vincent versuchen würde mir weh zu tun, dann hätte ich die drei Jungs - inklusive eines Dämons - an meiner Seite.

Denn ich sah, dass Dereck Azael bereits an seiner Seite hatte. Für den Fall eines Falles würde er ihn benutzen, um Vincent anzugreifen.

"Eigentlich geht es wirklich um deine Kette", begann Vincent auf einmal, woraufhin ich die Ohren spitzte. Stöhnend fasste ich mir an den Kopf. Natürlich konnte es nur um das blöde Amulett gehen, was sollte ich von ihm auch erwarten?

"Ich hab sie nicht dabei, okay?", erwiderte ich und war kurz davor mich wieder aus dem Staub zu machen. Vielleicht hatten die Jungs ja recht und ich sollte das Gespräch sofort wieder beenden.

Das Amulett lag sicher und geborgen in meiner Schublade zuhause. Ich vermisste Lucifer irgendwie, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich direkt bei Kris schlafen würde.

"Ich muss dir ja nicht nochmal sagen, dass ich sie dir wegnehmen wollte. Das hatte aber wirklich einen Grund." Er fuhr sich nachdenklich durch die Haare. Offenbar wusste er selbst nicht so recht, was er sagen sollte und vor allem, wie er es sagen sollte.

Er druckste eine Weile vor sich herum und ich war kurz davor, all das hier einfach abzubrechen. Der Junge handelte eher mit Fäusten, anstatt zu reden. Deswegen bewegten wir uns gerade wohl auf einem unbekannten Terrain.

"Ich habe seit Jahren bei meiner Großmutter gelebt, weil meine Eltern einfach... sie waren einfach das Allerletzte. Meine Großmutter war alles für mich. Ob du es glaubst oder nicht, aber ich habe es wirklich geliebt mit ihr Zeit zu verbringen", begann er zu erzählen und senkte bedrückt den Kopf. " Bis sie dann vor einigen Wochen... gestorben ist."

Das hatte Lauren Kris und mir bereits erklärt, nachdem er uns angefallen hatte. Waren das vielleicht die Gründe, warum er in letzter Zeit noch anfälliger für Gewalt und Schlägereien gewesen ist?

"Ich weiß, das klingt für dich jetzt sicher ausgedacht, aber die Kette... deine Kette... hat ihr einmal gehört. Als ich kleiner gewesen bin, hatte sie genau diese Kette immer um den Hals getragen. Auch mit dieser Gravur und allem drum und dran. Dann hat sie die Kette verloren und seitdem ging es ihr von Tag zu Tag immer schlechter."

Wie konnte das sein, dass das Amulett eines Dämons schon so lange auf der Erde war? Ich befürchtete, Lucifer hatte mir so einiges zu erklären.

"Ich wollte die Kette für sie wieder holen, weil ich wusste... das hört sich vielleicht komisch an, aber ich weiß einfach, dass diese Kette etwas besonderes war. Sie hat ihr immer so viel Kraft gegeben." Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Es war mit Trauer gefüllt. "Als ich gemerkt habe, dass du genau diese Kette plötzlich trugst, dachte ich du hättest sie vielleicht gestohlen oder gefunden."

Eigentlich war die Kette ein Geburtstagsgeschenk zu meinem 17. Geburtstag gewesen. Mum ist so aufgeregt gewesen, als ich es ausgepackt und mich riesig darüber gefreut hatte.

"Ich weiß, dass du sie nicht geklaut hast, aber es hat mich im ersten Moment so wütend gemacht. Ab ihrem Tod war es sowieso zu spät, die Kette für sie zurück zu holen." Vincent schaute mich inzwischen gar nicht mehr an und kickte unbeholfen einen Stein davon. "Bisher habe ich dir immer die Schuld für ihren Tod gegeben. Ich musste irgendwem die Schuld geben, obwohl das nicht einmal stimmte."

Schweigend beobachtete ich den frustrierten Jungen dabei, wie er versuchte seine Gedanken zu sammeln.

"Ab dem Tag ihrer Beerdigung wollte ich die Kette wieder haben, um wenigstens etwas von ihr noch in meinem Leben haben zu können. Ich musste zu meinen Eltern zurück und hasste es auf Anhieb, wieder bei ihnen leben zu müssen. Um die Zeit bei ihnen irgendwie überstehen zu können, wollte ich Grannys Amulett zurück holen."

Ich war von der ganzen Geschichte einfach nur sprachlos und erwischte mich dabei, wie ich ihn mit weit aufgerissenem Mund anstarrte. Wie Vincent seine inneren Gefühle einfach vor mir aufgedeckt hatte, schockierte mich fast genauso sehr wie das, was er über die Lippen gebracht hatte.

Seine Großmutter wäre also vielleicht schon längst verstorben, wenn sie meine Kette nicht ihr ganzes Leben lang bei sich getragen hätte? Das war jedoch Lucifers Kette und er hatte zu mir gesagt, dass ich der erste Mensch gewesen war, dem er begegnet ist.

Vincent tat mir unfassbar leid, denn ich hatte seine Eltern nur einmal bei einem Schulfest in der siebten Klasse mehr oder weniger kennengelernt. Sie hatten keinerlei Interesse an dem, was ihr Sohn damals aufgeführt hatte und zogen ihn bloß aufgrund eines kleines Versprechers danach herunter.

Seine Großmutter musste wohl sein richtiges Zuhause geworden sein. Ich konnte mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass er mit ihr am Esstisch aß und vielleicht sogar lachte, wenn sie etwas erzählte.

Vincent zeigte mir jedoch mit seiner Geschichte, dass selbst hinter der dicksten und vermeintlich stärksten Fassade auch nur ein Mensch mit Gefühlen steckte. Ich fragte mich, ob Bobby oder Chuck wussten, was in ihm vor ging.

"Das war eigentlich alles, was ich dir sagen wollte", murmelte Vincent ohne mir in die Augen zu sehen. Ihm musste die ganze Situation ziemlich unangenehm sein.

"Ich würde dir die Kette liebend gern zurückgeben, aber das geht leider nicht", erwiderte ich entschuldigend. "Ich kann verstehen, dass dich das fertig machst und so hast mein größtes Beileid, doch ich brauche sie einfach im Moment."

"Ja, ja... schon klar", sagte er und schaute mir endlich in die Augen. Er wirkte gerade so verletzlich, dass ich mich nicht traute ein weiteres Wort darüber zu verlieren. "Ich dachte, dass ich dir eine Erklärung schuldig bin. Ich habe auch nicht damit gerechnet, dass du sie mir geben würdest."

"Tut mir echt leid, Vincent." Bedauernd presste ich die Lippen aufeinander.

"Eine Sache noch..."

"Ja?" Irgendwie hoffte ich, dass er mir vielleicht noch etwas mehr zu all dem sagen konnte.

"Glaub aber ja nicht, dass wir jetzt Freunde sind. Ich finde dich immer noch unausstehlich."

Mit einem Seufzen sah ich ihm an, wie er leicht schmunzelte. Darin lag eine Menge Trauer, aber auch sein üblicher Sarkasmus. Dann wandte er sich von mir ab.

Natürlich hatte sich nichts zwischen uns geändert. Irgendwie hatte ich insgeheim gehofft, dass er endlich zu Sinnen gekommen ist, aber er fand mich immer noch unausstehlich.

Mir kamen die Jungs bereits mit großen und erwartungsvollen Augen entgegen. Kris legte direkt seinen Arm um meinen Körper, während Dereck und Glenn Vincent nachblickten.

"Warum ist er heute so anders?", murmelte Glenn und rückte seine Brille zurecht, bevor er mich ansah.

"Es ging doch um meine Kette", klärte ich auf, woraufhin mir mit einem genervten Stöhnen geantwortet wurde. "Er hasst mich übrigens immer noch."

Ich lächelte Kris an, der mich so intensiv anschaute, dass er mir womöglich - vor den Augen der anderen beiden - beinahe einen Kuss auf die Lippen gedrückt hätte. Seine Wangen füllten sich mit zärtlicher Röte, als er merkte, wie nah sich unsere Gesichter waren.

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