Kapitel 8

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Meinen Kopf stütze ich in meine Hände, als ich nichts mehr zurückhalten kann. Das bitterliche Weinen konnte ich den Morgen zwar zurückhalten, wenn ich aber wieder vor ihren Grab sitze, ist es mit mir vorbei. Vier Jahre ist es her, aber noch immer fühlt sich der Schmerz so frisch an. Als wäre es mir gestern erst gesagt worden, dass ich meine Mutter niemals wieder sehen oder in den Arm schließen werde.

Der 15. November 2011

Ich saß am Dienstagmittag auf meinem Platz im Matheunterricht. Neben mir saß Bolin, wir sprachen gerade über Lineare Funktionen, waren in der 9. Klasse und hatten im Ganztag noch die Band-AG. Es war ein normaler Tag gewesen. Am Morgen habe ich mit meinen Eltern zusammen in der Küche gesessen, wobei mein Vater immer wieder auf seinem Handy etwas nachschauen musste. Er meinte, dass es kurz zuvor eine Wende in seinem Job gegeben hat, irgendein besonders wichtiger Anruf, aber genaueres wollte mir meine Mutter nicht sagen. Es hätte mich nicht zu interessieren und wäre nicht von Bedeutung.

Bis zwanzig Minuten vor Schluss hatten wir Zeit an den Aufgaben zu arbeiten und fingen dann an sie zu vergleichen. Bolin machte den Anfang, auch damals war er bereits ein Streber in diesem Fach, was jetzt nichts schlechtes ist. Er wurde von den anderen immer dafür aufgezogen, aber mir war das nicht so wichtig. Wie dem auch sei, die Besprechung ging weiter, bis wir alle als Klasse wahrnehmen konnte, dass die Tür zum Klassenzimmer aufgeschlossen wird. Wir dachten, dass es unser Klassenlehrer war, aber es war Herr Evers, unser Schulleiter. Frau Sinn wollte mit ihm reden, aber er kam gleich zum Punkt, dass es nicht um sie geht.
Herr Evers: Ich müsste jemanden aus dem Unterricht nehmen."

Sein Blick ging gleich zu mir über und sogleich wurde mir anders. Ich wusste, dass ich die letzten Stunden in einer AG gefehlt hatte und dass mein Vater über einen Umzug nachdachte, dass ich dann eventuell die Schule hätte wechseln müssen, aber das alles machte es nicht besser. Ich erhob mich vom Platz und verließt unter den Blicken meiner Klassenkameraden den Raum, damit ich mit Herrn Evers zu seinem Büro gehen konnte. Als wir dort ankamen, standen dort zwei Polizisten. Eine Frau und ein Mann. Ich schaute mich hilflos um, während Herr Evers die Tür schloss und sich danach an die beiden wendete. Ich bekam nicht viel mit, habe vieles auch vergessen, aber den einen entscheidenden Satz könnte ich niemals mehr im Leben vergessen. Der hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt.
Polizistin: Wir müssen dir leider sagen, dass deine Mutter heute Vormittag bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist."

Zuerst stand ich vor ihnen. Dann brach ich in mir zusammen. Meine Mutter soll tot sein und ich wollte das nicht wahrhaben. Ich weinte hysterisch, schrie immer wieder auf, dass sie lügen müssen. Dass das ein Fehler sein muss. Ich habe sie am Morgen gesehen. Ihr ging es gut. Und jetzt soll sie nicht mehr hier sein? Jetzt soll sie aus dem Leben gerissen worden sein. Und das wichtigste, ich soll mit meinem Vater allein leben! Er soll sich allein um mich sorgen! Ich wollte nicht nach Hause. Ich wollte nicht zu der Wohnung zurück, die jetzt nichts mehr an Bedeutung hat. Ich wollte nicht mehr in mein Leben zurück, aber die beiden Polizisten schafften es, mich dazu zu überreden.

Die Sachen hatte die Frau geholt, ich ging mit dem Mann raus zum Auto. Ich hatte das Gefühl, dass mich alle aus den Fenster aus beobachteten. Als hätte ich etwas verbrochen, dabei wurde mir gerade eben das wichtigste in meinem Leben genommen. Es fühlte sich so an, als wäre mir mein Herz rausgerissen worden. Vereinzelte Tränen liefen immer wieder über mein Gesicht, im Auto wischte ich mit dem Ärmel immer wieder darüber, bis endlich die Dame meine Sachen geholt hatte. Dann ging es nach Hause. Es ging zur Wohnung zurück, zu der ich nicht wollte. Ich kam in einem Leben an, in das ich nicht gehörte und was ich nicht haben wollte.

Ich stieg aus, kramte meine Sachen hervor und war die letzte, die Richtung Tür lief. Die Beamten mussten nicht mal an der Tür klopfen oder klingeln. Einige Meter, bevor sie die Tür erreicht hätte, riss mein Vater die Tür auf und lief aus dem Haus, als hätte er irgendwas gewusst oder geahnt. In seiner rechten Hand hielt er das Handy, in der anderen seinen Schlüssel. Er bliebt abrupt stehen, sah zuerst die beiden Polizisten und dahinter mich. Seine 14-jähringe Tochter, die verweint und vollkommen aufgelöst hinter den beiden anderen Personen Schutz suchte. Ich suchte keinen Schutz vor ihm, sondern vor der Wahrheit, die mich einholte.
Chris: Bitte nicht..."
Seine Arme fielen an seinen Körper herab, seine ganze Anspannung fiel nach und nach ab, wobei ich sehen konnte, dass er seinen Kiefer anspannte, seine Tränen auch unterdrückte und seine Hände nach und nach verkrampfte.
Polizist: Herr Reinelt, ihre Frau ist vor zwei Stunden mit ihrem Auto gegen eine Leitplanke gefahren. Die Einsatzkräfte konnten nichts mehr für sie tun und-"
Chris: Nein! Sie kann nicht tot sein!"
Der Beamte musste meinen Vater beruhigen, die Frau war an meiner Seite, da ich das alles überhaupt nicht verkraften konnte. Ich kam an den Tag mit einem Nervenzusammenbruch ins Krankenhaus für eine Nacht.

Heute – Vier Jahre nach dem Tag, der alles änderte

Es ist der Tag, der alles ändern musste. Danach war nichts mehr so, wie zuvor und ich wusste, dass es auch niemals mehr der Fall sein wird. Ich war zerstört, war wochenlang nur zu Hause und hätte beinahe die 9. Klasse wiederholen müssen, da ich so oft gefehlt hatte. Durch ein Sonderurteil durfte ich in die 10. Klasse, obwohl ich bei vielen Fächern nicht bewertbar war. Innerhalb weniger Wochen zogen wir aus der damaligen Wohnung in Bünde in eine drei Zimmer Wohnung nach Herford. Erst vor einem Jahr ging es in das Haus, was ich heute mein zu Hause nennen sollte. Aber das ist es nicht mehr. Auch meine Familie ist keine Familie mehr. Sobald ich meine Abschluss habe, bin ich hier weg und komme niemals wieder zurück. Was nützt es an einem Ort zu bleiben, wo man weder geliebt noch gewollt ist?

Vom Grabstein lege ich einige Blätter runter und die verwelkten Zweige der anderen Pflanzen knicke ich ab, damit ich die noch entsorgen könnte, bevor ich wieder gehen muss. Ich kann hier nie lange sein, weil es mich immer wieder daran erinnert, was ich hatte und verloren habe.
Cassy: Ich vermisse dich so sehr, Mama. Ich wünschte, du wärst noch hier und wärst für mich da. Du fehlst hier...du fehlst mir."
Ich wünschte, ich hätte noch einen Tag mit dir, damit ich dir nochmal sagen kann, wie sehr ich dich liebe und vermisse...

Nameless to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt