Sicht von Chris...
Der Tag beginnt bei mir auf Tour fast immer mit der gleichen Routine. Zwischen acht und zehn aufstehen, umziehen, die Sachen zusammenpacken und im Anschluss den Bus verlassen und in die Arena gehen. Zwischendurch begreifen, wo ich heute wieder aufgewacht bin und danach an die Arbeit.
Beim Frühstück steht bereits mein Mac neben mir, damit ich die eingegangenen Mails beantworten, die Pläne weiterschicken und die Organisation für die kommende Show durchgehen kann. Mein Bruder hingegen wird bereits bei der Bühne sein und die letzten Dinge mit der Crew dort besprechen. Irgendwann werde ich die ganzen Pläne noch miteinander vertauschen und dann habe ich die Katastrophe. Zwei Dinge zur selben Zeit organisieren zu müssen und den Überblick darüber zu behalten, wird früher oder später schief laufen, das sehe ich jetzt bereits. Wenn die Show im Juni nächstes Jahr gelaufen ist, dann wird alles wieder gut. Nach dem 11. Juni nächsten Jahres wird alles wieder etwas ruhiger. Licht, Pyrotechnik, viel zu viele Kosten, die auf uns zukommen und dazu alles, was noch immer nicht fertig ist, wie beispielsweise einige neue Illusionen und der Ablauf, der gerade nur experimentell skizziert ist. Wir haben uns zu schnell an etwas so großes gewagt und generell...es lenkt nur ab von meinem restlichen Leben.
An der Seite meines Macs kommen immer wieder neue Nachrichten rein. Neben den Mails und Benachrichtigungen der Crew, jetzt auch die Nachrichten des Tages, die mich immer wieder ablenken. Der Morgen des 14. Novembers, gestern war das Freundschaftsspielt zwischen Deutschland und Frankreich. Immer wieder verfolge ich nach und nach ungläubig die Nachrichten, dass es dort gestern einen Anschlag gegeben hat. In den letzten Wochen liest man auch immer wieder davon. Schrecklich, was in der Welt gerade los ist.
Ich klappe den Mac zu, lasse mich gegen die Lehne des Stuhls fallen und schließe für einen Moment meine Augen. Zu viele Informationen auf einmal, die alles in mir überfluten. Auch mein Handy zeigt immer wieder etwas an. Aber das eine, auf das ich warten würde, kommt nicht. Keine Nachricht auf WhatsApp, zumindest keine, die gerade wichtig wäre.
Andreas: Du hast gute Laune."
Ich schaue auf und sehe mir gegenüber meinen Bruder, der vermutlich mit der Menge an Schlaf auch halbwegs wach sein wird. Ich hingegen hänge hier mit meinem zweiten Kaffee und bin noch immer kaum wacher als vorher.
Chris: Diese ganzen Pläne steigen mir so zu Kopf. Ich bin froh, wenn die Show nächstes Jahr in Frankfurt gelaufen ist. Dann die aktuellen Sachen, die Planung, die Fragen der Crew, Anfragen von anderen Sendern..."
Andreas: Du weißt, dass du auch Dinge abgeben kannst, oder? Du musst das nicht alles machen, Chris. Nimm dir Zeit für anderes."
Ich brauche für nichts anderes Zeit, da ich nichts anderes habe, wo ich Zeit reinstecken müsste oder etwas, was meine Aufmerksamkeit benötigen würde. Die Arbeit ist gerade mein Leben, mehr habe ich nicht mehr. Der Rest wurde mir genommen.Andreas greift nach meiner Tasse, lenkt dadurch meine Aufmerksamkeit wieder zu sich und steht im nächsten Moment auf.
Andreas: Ich besorge uns beiden noch eine Tasse und dann geht es zur Bühne, okay?"
Chris: Klingt nach einem Plan."
Und während mein Bruder wieder zur Theke geht, lasse ich meinen Blick nochmal auf mein Handy schweifen. Dabei gehe ich auf unseren Chat und tippe eine Nachricht ein, aber bevor ich sie wegschicken würde, lösche ich alles wieder. Bringt sowieso nichts. Sie würde es wieder ignorieren oder mir kaltherzig antworten. Auch egal. Zuletzt, bevor mein Bruder wieder bei mir sein würde, gehe ich auf die Spieler-App und schaue, wann welches Spiel ansteht. Um 15.30 Uhr ist erst Anpfiff, dann kann ich erst auf Ergebnisse und Zwischenstände achten. Bis dahin gehen auch unsere Proben.In den Proben vergesse ich zumeist auch alles andere, was in meinem Kopf los ist. Ich vergesse, was zu Hause gerade passiert. Ich vergesse, was vor vier Jahren passiert ist und sich morgen am Sonntag mal wieder jährt. Ich vergesse meine Fehler, meine Entscheidungen und all das, was mich immer wieder an allem zweifeln lässt. Du zweifelst doch bereits an deinem gesamten Leben, Christian. Dein ganzes verdammtes Leben ist ein einziger Fehler, sie hatte eben am Ende doch recht. Die Arbeiter klären mit mir auch immer wieder die letzten Sachen, die Techniker müssen einige Einstellungen verändern und zum Schluss muss der Ton noch eingestellt werden. Noch ein paar Stunden, bis es los geht, aber immerhin sind die Proben jetzt vorbei.
Während ich den Flur runterlaufe, schaue ich wieder auf mein Handy. Die Spieler-App öffne ich dabei beinahe automatisch und aktualisiere sie gleich. Das Spiel geht gerade zwanzig Minuten und es steht gerade 2-1 für die Gäste. Mich bringt es einen Moment zum Lächeln, bevor ich bei der Kabine ankomme, das Handy weglege und hinter mir die Tür schließe. Mein Bruder wird gerade vermutlich mit seiner Frau sprechen und fragen, was die Kinder machen. Drei Stück an der Zahl mittlerweile, wobei seine jüngste gerade drei geworden ist. Lotta ist so ein süßes, kleines Mädchen. Deine war auch mal so klein, aber da warst du für all das noch nicht bereit. Du bist es heute noch immer nicht.
Ich lasse mich in den Stuhl vor meinen kleinen Tisch fallen und lege meinen Kopf in den Nacken. Einen Moment überlege ich, ob ich einfach wieder etwas an den Plänen für das nächste Jahr arbeiten will, aber entscheide mich dann doch dagegen. Stattdessen greife auch ich nach meinem Handy und wähle die Nummer meiner Mutter. Ich habe mich in den letzten Tagen kaum gemeldet, es wird Zeit.
Hedi: Reinelt?"
Chris: Hey Mama, ich bin es, Christian."
Hedi: Hallo Christian. Alles gut bei euch? Läuft alles so, wie ihr es gedacht habt?"
Chris: Bei uns ist alles gut, keine Sorge. Es gibt wie immer nur die üblichen Probleme, die es eben immer schon gegeben hat. Weißt du auch zu gut. Andres redet gerade mit Steffi und da ich Zeit hatte, dachte ich, dass ich mich mal melden könnte."
Und weil ich keinen anderen habe. Weil ich alles verloren habe und das, was zu mir gehören sollte, will nicht zu mir gehören.
Hedi: Wie geht es dir und deiner Tochter?"
Chris: Muss, würde ich sagen. Du weißt, dass das jetzt besonders schwer für sie ist."Auch wenn wir wissen, dass ich dazugehöre, wir wissen beide auch, dass ich das hinter mir lassen konnte. Zumindest in den Zügen, dass ich nicht immer wieder dran denken muss. Aber Cassy...ich wünschte, ich könnte was ändern, selbst wenn ich mein Leben ruinieren müsste...
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Nameless to You
Fanfiction»Es heißt immer, dass alles im Leben einen bestimmten Grund hat, aber manchmal würde ich diesen nur zu gerne wissen!« Ein anfangs normaler Herbsttag im November zerstört in diesem Fall eine gesamte Familie und keine erbrachte Mühe scheint das Ausmaß...