Kapitel 36

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Irgendwie hatte ich den ganzen Morgen immer im Hinterkopf die Sorge, dass etwas in der Schule passieren könnte mit Cassy. Auch wenn ich weiß, dass sie das nicht tun würde, dass das nicht ihrem Wesen liegt, die letzten Wochen hängen mir einfach nach und immer wieder muss ich daran denken. Viel Schlaf habe ich dann auch wieder nicht bekommen, aber immerhin war dieses Mal nicht Stitch daran schuld.

Gearbeitet habe ich den Nachmittag über im Wohnzimmer, hatte dabei die Gesellschaft von Stitch und habe im Hintergrund die Playlist der neuen Show laufen. Für viele Illusionen haben wir zwar schon Songs, aber immer wieder suche ich dann doch noch bessere Songs, wenn sie mir über den Weg laufen. Andreas lässt mich in Ruhe und Stitch liegt einfach in seinem kleinen Korb und sieht niedlich aus. Ist vermutlich auch schon genug Arbeit für den Kleinen. Einige Notizen kann ich am iPad schreiben, auch wenn ich mit dem Stift noch so mehr oder weniger klar komme, aber schneller ist es allemal, da ich so meine schrecklichen Notizen auch verbessern kann. Ich bin der einzige, der das lesen muss und dann reicht es auch aus. Nebenbei trinke ich meinen Kaffee, habe ein paar Kekse neben mir stehen und versuche den Tag normal zu halten, auch wenn es vieles an den Tag gibt, was eigentlich gar nicht mehr normal ist.

Das erste Mal am Morgen konnte ich entspannt mit Cassy in der Küche sitzen und mit ihr reden. Und es war nicht erzwungen, weil ich halt da war und sie musste antworten. Es war locker, als wäre es immer so gewesen. Als wäre das ein ganz normaler Tag gewesen. Ein ganz normaler Morgen. Wir haben über den Tag gesprochen, was wir am Abend essen werden und dass wir uns darum kümmern würden. Wenn alles mindestens so weitergeht, wie jetzt gerade, könnte alles irgendwie wieder normal werden.

Zuerst wacht Stitch auf, schaut von seinem Korb auf und steht danach auch auf. Ich muss leicht lachen, weil er sehr taumelnd läuft, bis er sich im Flur wieder setzen kann. Kurz schaue ich ihm noch nach, bis auch ich hören kann, dass die Haustür aufgeschlossen wird.
Cassy: Hey Stitch."
Von Anfang an warst du so süß zu deinem kleinen Kater. Vielleicht war er das, was dich zusammengehalten hat, dich nicht zusammenbrechen ließ. Zuerst wollte ich meinen Mac schließen, aber ich lasse den laufen, setze mich etwas weiter nach vorne, damit ich etwas weiter in den Flur schauen kann.
Chris: Hey Cassy."
Auch wenn sie keinen weiteren Schritt geht, ich sehe ihren Kopf, den sie durch die Tür hält und sehe sie danach auch gleich lächeln.
Cassy: Hey Chris. Noch am Arbeiten?"
Die Tasche lässt sie vermutlich auf der Treppe fallen und kommt danach doch zu mir ins Wohnzimmer. Dabei schaut sie zuerst auf den Lautsprecher, der unter dem Fernseher steht und bewegt zum Rhythmus ihren Kopf.
Cassy: Was ist das für eine Playlist?"
Chris: Von unserer nächsten Show, die wir am nächsten Herbst spielen. Ich suche noch gute Songs, aber finde nicht immer welche."

Jetzt lasse ich mich wieder gegen die Lehne fallen und bringe meine Tochter dadurch zum Lachen. Ich dachte, sie würde einfach in der Tür stehenbleiben oder sich eventuell hinter mich stellen, aber Cassy lässt sich neben mir nieder und schaut auf meinen Mac.
Cassy: Das sieht unfassbar kompliziert aus."
Chris: Eigentlich gar nicht. Man muss nur wissen, was die einzelnen Dinge, Begriffe und Stränge bedeutet, dass ist es sogar recht übersichtlich."
Cassy: Mama hatte immer gesagt, dass es mich nicht interessieren sollte. Das kam immer als Antwort, wenn ich dich etwas gefragt hatte."
Natürlich kann ich mich daran erinnern. Es war der Satz, den Sarah immer wieder gesagt hatte. Sie war der Meinung, dass das alles früher oder später den Bach runterlaufen würde und dass es deswegen nicht von Bedeutung wäre. Es hatte immer geschmerzt, dass die eigene Familie dagegen war.
Cassy: Kannst du mir das erklären?"
Und irgendwann habe ich geglaubt, dass es die Wahrheit ist. Dass es niemanden interessiert, aber wenn ich sie hier sitzen habe und sie sagt es so zu mir, will ich es glauben.
Chris: Wenn ich dich damit nicht langweile."
Ihre Arme stütz sie auf ihre Knie und ihren Kopf danach in ihre Hände. Ich hingegen muss leicht lachen, bevor ich den Bildschirm zu ihr drehe, damit sie was sehen kann.

Es ist nur eine grobe Übersicht, wo mir zwischendurch auch immer wieder auffällt, dass  ich ein paar Sachen vergessen habe. Wo laufen Kabeln und Kanälen entlang. Wo sind bestimmte Zonen, in denen wir vor allem mit Pyrotechnik arbeiten. Dazu der Ablauf einiger Illusionen, wann was dran ist und wie diese ganze Show überhaupt ablaufen soll. Und Cassy saß nicht einfach nur daneben und hat mir zugehört, sondern hat aktiv immer wieder Fragen gestellt und sie hat mehr verstanden, als ich gedacht hätte.

Schlussendlich kann ich darüber auf den Account zugreifen und ihr die Playlist zeigen, die ich dafür eingerichtet habe. Auch wenn mein Bruder darauf zugreifen kann, das war doch immer meine Aufgabe und er hat andere Schwerpunkte, um die er sich kümmert.
Cassy: Coole Songs. Sweet Child O' Mine von Guns N' Roses, My Heart Is Refusing Me von Loreen, Thinking  Out Loud von Ed Sheeran und Viva la Vida von Coldplay. Wer macht die Playlist bei euch?"
Chris: Das ist mein Job. Für mich geht es vor allem um Licht-, Ton- und Pyrotechnik und mittlerweile auch um die Gestaltung der Bühne oder um die Sachen, die wir während den Shows tragen. Kurz: Der Kram, der für Andreas nicht so wichtig ist."
Cassy fängt als erste an zu lachen und reißt mich dort mit rein. Zu lange war es nicht mehr so unbefangen bei uns. Sonst saß ich immer hier allein, habe für mich gearbeitet und dachte, es wäre eine einzige Enttäuschung für sie.
Cassy: Das ist echt ne Menge, was ihr da machen müsst. Kann ich da irgendwann mal mitkommen, wenn es dir passt?"
Chris: Klar, immer gerne. Das einzige ist natürlich, dass du nichts davon an irgendwen weitergeben darfst, da wir dich ansonsten noch erschießen müssten."
Cassy: Und das wollen wir ja nicht."
Über eine so lange Zeit habe ich mir immer gewünscht, dass sie ein solches Interesse haben würde und scheinbar hatte sie das immer. Es wurde nie ausgesprochen.

Während ich die letzten Sachen auf meinem Mac speichre, steht Cassy als erste vom Sofa auf und geht nochmal in den Flur, damit sie Augenblicke später mit einem Stoffbeutel wieder zu mir kommen kann und von mir einen skeptischen Blick erntet.
Cassy: Ich habe alles mitgebracht, damit wir zusammen Lasagne machen könnten. Hoffentlich für dich okay."
Chris: Mehr als okay, mein Lieblingsessen. Ich bin dabei."
Auf den Wunsch von Cassy lasse ich die Playlist weiterlaufen und gehe mit ihr gemeinsam in die Küche. Dabei kenne ich nach dem Jahr, was wir jetzt bereits in dem Haus leben, noch immer nicht alle Plätze, wo ich bestimmte Formen oder Sachen hingestellt habe. Irgendwann findet man alles irgendwie.

Im Hintergrund läuft gerade das Lied Somewhere Over The Rainbow, die Lasagne ist im Ofen und zusammen kümmern wir uns um den Abwasch, der jetzt gerade schon aufgekommen ist. Dabei sortiere ich die Sachen ein, die Cassy mir zureicht. Irgendwann will ich wieder was entgegennehmen, aber sie reicht mir nichts und daher schaue ich das erste Mal wieder zu ihr hin.
Cassy: Du hast immer sehr wenig von der Arbeit gesprochen. Nur das nötigste."
Ich nicke. Wir haben immerhin allgemein wenig miteinander gesprochen. Und außerdem hatte Sarah dir immer wieder eingeredet, dass es nicht wichtig ist und dass es keinen interessiert. Irgendwann verstummt man einfach.
Chris: Ich dachte immer, es interessiert dich nicht und...dass du es nervig findest."
Cassy: Nervig?"
Chris: Keine Ahnung...nervig oder peinlich. So viel, was ich im Internet über mich lesen muss und ich weiß nicht, was du denkst darüber und-"
Cassy hält mir ihr Handy vor, wo ich sehen kann, dass sie auf Instagram dem Account von Andreas und mir folgt, dass sie sich einige Termine von Sendungen eingetragen hat und dass sie aktiv verfolgt, was wir wann gemacht haben."
Cassy: Auch wenn ich es dir nicht sagen konnte...mich hat das alles immer fasziniert."

Danach schaut sie weg, weil ihr das unangenehm sein könnte. Du warst ihr immer irgendwie wichtig.
Cassy: Ich fand es immer berechtigt, dass du an deinen Traum glauben wolltest. Ich habe eher nie verstanden, warum Mama immer dagegen war."
Auch jetzt ist es immer Cassy, die derlei Gespräche anfängt. Ich hingegen stehe oft schweigend neben ihr, antworte auf ein paar Sachen, aber mehr ist es auch nicht. Vielleicht kann ich das eines Tages durchbrechen und wieder ganz frei sprechen. Vielleicht denke ich eines Tages nicht mehr, dass es sowieso keinen interessiert, was ich denke.
Cassy: Das sollte dann auch der letzte Teller gewesen sein."
Dass Cassy mir den vorhält, bringt mich auch dazu, dass ich wieder darauf reagieren muss. Ich überspiele es, indem ich einmal aufgesetzt lache. Ihren misstrauischen Blick bekomme ich mit, aber ich mache einfach weiter.
Chris: Wie lange noch?"
Cassy: Ich denke, etwa zehn Minuten."
Chris: Dann gib du doch eben Stitch auch sein Abendessen und ich decke den Tisch."
Cassy: Abgemacht."
Als sie für einen Moment die Küche rund mich hinter sich lässt, atme ich einmal durch, fasse mich wieder und fange an den Tisch zu decken...

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