Kapitel 52

26 5 0
                                    

Beim Frühstück in der Arena bin ich grundlegend verwirrt und überfordert. Zum Teil aufgrund der Sache, die eben gerade passiert ist und zum anderen, weil es gerade so viele Eindrücke sind, die ich auf einmal aufnehmen muss. Für die nächsten Tage stecke ich in der Welt meines Vaters drinnen, was ich auch wollte, und muss jetzt mit den Menschen, der Umgebung und einfach allem auskommen.

Mein Vater ist im Grunde immer sehr still, selbst mir gegenüber und allgemein auch introvertiert. Aber irgendwie nicht hier, nicht in seiner Welt. Immer wieder will jemand was von ihm, er hat sofort den Überblick darüber und redet mit so vielen Menschen hier über so verschiedene Themen, wo zugleich mich das alles einfach nur überflutet. Ich würde hier durchdrehen und bin froh, dass ich am Nachmittag dieses Gewusel verlassen kann für ein paar Stunden. Dieses Mal bin ich diejenige, die einfach schweigt und alles an sich vorbeiziehen lässt, was normal immer das ist, was mein Vater macht. Wieder einmal würde ich mir wünschen, ich könnte einfach im Boden versinken und all dem hier entkommen. Eventuell sollte ich mich aber auch nicht so anstellen, ich wollte das alles und vielleicht sind es einfach nur die ersten paar Stunden.

Während ich darin versinke, dass ich gerade versuche meinen Apfel in eine halbwegs essbare Form zu bringen, tippt mit Papa auf die Hand, sodass ich zu ihm aufschaue. Warum musst du gerade jetzt fast lachen? Habe ich irgendwas getan?
Chris: Du bist heute sehr still für deine Verhältnisse."
Christina: Das könnte ich dich an jeden anderen Tag fragen. Hier ist so viel los, dass es mich vielleicht ein wenig überfordert."
Als würde er noch beim ersten Abschnitt meines Satzes festhalten, zögert mein Vater und scheint darüber nachzudenken.
Christina: Warum bist du zu Hause immer so still? Du redest immer sehr wenig von dir aus, nur wenn ich dich was frage oder dich in irgendwas verwickle."
Chris: Weil es früher auch keinen interessiert hat...weil es immer als nervig angesehen wurde, irgendwann schweigt man dann einfach."
Mit seinem Löffel rührt er in seinem Kaffee, weicht meinen Blicken dabei gekonnt aus und versucht aus der Situation zu kommen. Jetzt haben wir dir Seiten gewechselt.
Christina: Ich fand bisher alles, was du mir immer wieder gesagt hast, interessant. Weil du schon so viele Dinge erlebt hast, obwohl das alles wohl schwer gewesen sein wird. Nichts davon war jemals nervig, das hätte ich dir sonst freundlich gesagt."

Papa muss lachen und wenn er es muss, dann automatisch auch ich. Zu viele Jahre habe ich mich nicht dafür interessiert, was er macht und was in seinem Leben passiert ist, aber das, was ich bisher rausfinden durfte, zieht mich immer weiter in seinen Bann. Dass ich irgendwann auch mal so viel zu erzählen hätte. Wo er bisher alles war, was er gesehen und erlebt hat, welche Personen er schon getroffen hat. Nur ein bisschen will ich mal so sein, wie mein eigenen Papa, dann wäre ich mit meinem Leben zufrieden.

Durch die Halle, wo wir beide, und einige andere gerade, essen, geht die Frau von eben durch, wobei sie an ihrem Handy hängt und uns zu Beginn gar nicht wahrnimmt. Vielleicht solltest du sie nicht so anstarren, Christina, das fällt früher oder später...und dann schaut sie von ihrem Handy auf, zu mir hin und bekommt eben gemeintes auch mit. Perfekt! Aber scheinbar bringt sie das etwas zum Lachen. Sei doch bitte nicht so süß. Ich muss hingegen verlegen wegschauen und das war ein dummer Fehler.
Chris: Ist irgendwas?"
Ich sitze noch immer meinem Vater gegenüber! Und der hat jetzt eben mein seltsames Verhalten mitbekommen, was er rein gar nicht verstehen kann.
Christina: Ich habe eben etwas echt dummes getan. Da ist eben eine aus der Crew langgelaufen und in Gedanken versunken habe ich dahin geschaut und natürlich musste sie das bemerken. War nur leicht unangenehm."
Er kann darüber lachen und ich denke nach. Vielleicht ist das der Moment, wo du einfach versuchen könntest ihm zu sagen, dass du auf Frauen stehst und die eine da, die mit ihm arbeitet, sehr raussticht.
Christina: Papa, ich wollte dir da was sagen. Ich..."
Manu: Chris!"

Ich verbrenne mich beinahe an meinem Kaffee, weil ich versuche meinen angefangenen Satz in meinem Kaffee zu ertränken. Auch wenn mein Vater zuerst noch zu mir schaut, als der Mann von vorhin wieder neben ihm steht, muss er sich an ihn wenden.
Chris: Was gibt es, Manu?"
Manu: Der Aufbau ist gerade das Problem. Da ihr die Reihenfolge verändert hattet, müssen jetzt einige Sachen geändert werden, aber das passt nicht in den Zeitplan der Pause, wo umgebaut werden müsste. Dein Bruder sucht dich, da er schon bei der Bühne ist."
Chris: Ich komme gleich nach."
Auch er trinkt seine Tasse Kaffee aus und stellt diese aufs Tablett. Erst dann schaue ich wieder auf und zu ihm hin.
Chris: Was wolltest du mir sagen, Christina?"
Meine vorherige Sicherheit in diesem Thema ist gerade durch den Eingang gegangen, hat sich im Bus in der Kabine versteckt und schreit ins Kissen.
Christina: War nicht so wichtig, Papa. Kann ich dir wann anders sagen. Geh jetzt zu den anderen, da wirst du gebraucht."
Chris: Bist du dir sicher?"
Nein.
Christina: Ja. Ich gehe bald mal in die Stadt und versuche wach zu sein. Ich finde dich schon."
Chris: Dafür brauchst du das hier..."

Zuerst kramt er in seiner einen Tasche, dann in der anderen, bringt mich zum Lachen und findet am Ende das, was er gesucht hat, in der Tasche seines Macs. Sein leicht peinlich berührtes Lachen ist auf einer Seite sehr amüsant und irgendwie so typisch. Das, was er mir über den Tisch reicht, nehme ich und schaue es mir genauer an. Auf der einen Seite ist das aktuelle Bild der Tour – seltsam seinen Vater und Onkel dort so zu sehen – und auf der anderen Seite hat er, in seiner versucht besten Schrift, meinen Namen geschrieben. Christina Reinelt – Tochter von Christian Reinelt.
Christina: Du hast dir beim Schreiben Mühe gegeben."
Chris: So viel die Zeit hergegeben hat. Es ist wirklich alles gut?"
Nein!
Christina: Ja, wir sehen uns später wieder. Ich mache Stuttgart etwas unsicher."

Ein letztes Lächeln von meinem Vater, danach nimmt er sein Tablett beim Aufstehen mit und bringt dieses weg, damit er danach mit seinen Sachen schnelle zur Bühne laufen kann. Sehr gut gemacht Christina, die nächste Vorlage, wann du ihm das sagen kannst, bekommst du dann 2023. Für einen kurzen Moment lasse ich meinen Kopf auf den Tisch fallen und versuche danach meine Kaffee noch auszutrinken und danach auch meine Sachen wegzubringen, damit ich einen Moment raus gehen kann.

Das Plastik um meiner Schachtel Zigaretten muss ich zuerst abmachen und stecke das einfach in meine Jackentasche. Nach dem nicht vorhandenen Gespräch mit meinem Vater musste ich einfach raus gehen. Als ich den Deckel der Packung West Silver öffne, sehe ich wieder die 22 Zigaretten, die immer in dieser Schachtel sind. Bald zwei verdammte Jahre ziehe ich das schon durch und in manchen Bereichen merke ich jetzt bereits, dass es für einiges in meinem Körper nicht sehr förderlich ist. Egal, nachdem ich mir die erste Zigarette daraus angesteckt habe, nehme ich den ersten Zug, lehne mich gegen die Wand der Arena und versuche die Arbeiter, die immer wieder an mir vorbeilaufen, zu ignorieren.
Karina: Du rauchst?"
Ich erschrecke mich, verliere dabei beinahe die Zigarette aus meiner Hand und stehe dann starr vor ihr, bevor ich überhaupt wieder wie ein normaler Mensch reagieren kann.
Christina: Offensichtlich, oder nicht?"
Karina: Natürlich, dumme Frage, wenn ich dich hier antreffe."
Die anderen gehen einfach an mir vorbei, aber sie nicht. Warum bleibst du jetzt wieder länger bei mir und warum bist du überhaupt hier?
Christina: Wirst du drinnen nicht gebraucht?"
Karina: Meine Probe ist immer erst am späten Nachmittag. Willst du mich los werden?"
Christina: Nein. Du darfst gerne hier sein...ich meine ja nur...wie heißt du eigentlich?"
Karina: Karina, ich arbeite hier nur für eine Illusion, die ich mit Chris zeige."

Für einen Moment schaut sich Karina um, bis ihr der Pass auffällt, den ich um den Hals hängen habe. Ich dachte, dass ich ihn da am wenigsten verlieren könnte.
Karina: Hast du noch was vor, oder warum trägst du den bei dir?"
Sie zeigt kurz darauf, damit ich verstehen würde, was sie genau meint. Bevor ich ihr antworte, nehme ich einen letzten Zug von meiner Zigarette, bevor sie abgebrannt ist.
Christina: Ich will gleich etwas die Stadt mir anschauen. Ich bin in den Jahren kaum aus meiner Heimat rausgekommen und daher nutze ich das jetzt etwas aus."
Karina: Klingt logisch."
Ist sie nervös? Karina meidet meine Blicke und schaut etwas unbeholfen in der Gegend umher. Es scheint auch so, als würde sie mit sich selbst kämpfen, bis sie sich scheinbar dazu überreden kann, sich wieder an mich zu wenden.
Karina: Dürfte ich dir Gesellschaft leisten?"
Und jetzt bist du nervös, Christina. Irgendwas in mir sagt, dass ich es lassen sollte. Vielleicht ist es aber auch nur der Teil, der immer noch von dem verletzt ist, was Velory getan hat und die Angst, dass es wieder passieren kann. Aber wenn sie mich auf ihre typische Art jetzt anlächelt, wie sie es vorhin getan hat.
Christina: Klar, sehr gerne."

So wurde aus meinem Tag, den ich eigentlich allein in Stuttgart verbringen wollte, ein Tag, wo ich zusammen mit Karina die Stadt entdeckt hatte. Und ich muss sagen, es war sehr schön...

Nameless to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt