Meine letzten Minuten in dieser Stadt verbringe ich damit, dass ich um den Hauptbahnhof laufe, da meine Bahn Verspätung hat. Nicht mal in der Schweiz ist man sicher vor der Verspätung der deutschen Bahn. Irgendwann sitze ich einfach auf einer Bank, habe meine Tasche neben mir liegen und beobachte die Leute, die hier herumlaufen.
Irgendwie witzig. In den letzten Jahren war der einzige Gedanke, der mich dazu gebracht hatte, immer weiterzumachen, der, dass ich irgendwann von zu Hause weg kann. Ich wollte immer weit weg und am liebsten dann niemals wieder zurückkommen. Berlin, Dresden, Köln oder Hamburg, es wäre mir egal. Ich wollte einfach nur weit weg und niemals wieder zurückkommen. Und jetzt...ich bin weit weg von zu Hause. Ich war komplett für mich, habe machen können, was ich wollte und vor allem war ich weit von Chris entfernt. Und irgendwie war in den letzten Tage aber alles anders als bisher. Ich wollte immer weg, ihn niemals wiedersehen und hätte alles getan, damit ich meine Mutter noch ein einziges Mal wiedersehen kann. Ich schaue einen Moment in den Himmel, keifen meine Augen zusammen und komme dann wohl auf den Gedanken, den ich ewig nicht mehr hatte. Ich will nach Hause zu meinem Vater...
Da meine erste Verbindung nach Mannheim Verspätung hatte, musste ich danach auch dort wieder wartet und in Dortmund natürlich auch. Ich hasse das Reisen mit der deutschen Bahn, aber anders wäre ich nicht dahin gekommen. Immerhin durfte mein Vater nicht wissen, dass ich hier bin und ein eigenes Auto habe ich nun mal leider nicht. Das letzte war die Regiobahn nach Herford. Neben meinem Vater hat mir Bolin auch mehrfach geschrieben und selbst Andreas hatte einige Nachrichten hinterlassen.
Andreas: Ich weiß, dass du es vielleicht nicht glauben kannst, aber Chris macht sich Sorgen. Bitte Cassy, komm wieder nach Hause.
Andreas: Ich mache mir Sorgen.
Und das erste Mal in meinem Leben, will ich das glauben. Dass mein Vater sich Sorgen macht, dass er wissen will, wo ich bin. Und vermutlich hatte er schon immer ein Interesse daran. Hätte er gewusst, wo du bist, wäre er auch vielleicht nachgekommen. Nur damit er sich sicher sein kann, dass dir nichts passieren würde.Der Bahnhof in Herford ist zwar recht zentral gelegen, heißt aber auch, dass ich wieder ein bisschen laufen muss. Immerhin konnte ich meine Kopfhörer laden und habe somit etwas Unterhaltung auf dem Weg. Wobei nach der langen Reise werden sie auch bald wieder leer sein. Je näher ich dem Haus komme, desto nervöser werde ich innerlich. Seit Donnerstag war ich nicht mehr hier und habe kein Wort dazu verloren, wo ich überhaupt hin bin. Ich habe einzig gesagt, dass ich wiederkommen werden. Aber niemals wann und warum ich genau gehen musste.
Und dann bin ich da. Ich gehe den Weg entlang zur Haustür. Auf dem Hof steht das Auto meines Vater, also ist er zu Hause. Hätte ich etwas anderes erwartet? Wenn er sich wirklich Sorgen macht, dann wartet er zu Hause, bis ich wieder da bin. Ja, ich bin wieder zu Hause. Mit meinem Schlüssel schließe ich die Haustür auf und gehe rein, damit ich sie hinter mir zufallen lassen kann. Stitch sitzt im Wohnzimmer und schaut zuerst zu mir, bevor er seinen Blick zur Treppe hin lenkt.
Chris: Cassy!"
Von oben kommt mein Vater die Treppe runtergestolpert, damit er bei mir im Flur zum Stehen kommen kann. Zuerst möchte er noch näher kommen, nach meiner Schulter greifen, irgendwas tun, um zu begreifen, dass ich wieder hier bin, aber das alles unterbindet er sich selbst. Weil du es in all den Jahren nie wolltest, Christina.
Chris: Ich habe mir solche Sorgen gemacht, Cassy. Und...es tut mir alles so leid."Was sollte ihm leid tun? Ich habe ihn in so vielen Jahren zu Unrecht schlecht behandelt und trotz allem hatte er immer versucht für mich da zu sein. Ich sollte das sagen.
Chris: Ich hätte dich nicht anschreien sollen, das Gespräch mit dir suchen. Ich hätte irgendwas tun sollen, damit das alles endet, aber ich habe mich nie getraut. Ich bin so schlecht in all den Dingen. Es tut mir leid, dass ich dir all die Jahre dieses Gefühl gegeben habe, dass du mir nicht wichtig wärst. Das bist du! Ich...ich weiß, dass ich ein schrecklicher Vater bin und das alles nicht kann..."Was er danach noch redet, blende ich aus. Denn während Chris noch weiterhin vor sich her redet und im Flur herum schaut, gehe ich die letzten Schritte auf ihn zu und lege meine Arme um ihn. Merkbar verstummt er und hört für einen Moment auf zu atmen. Jahrelang haben wir das nicht getan. Wir sind einfach auf Distanz gegangen, wergen mir. Er bewegt und regt sich kein Stück, steht starr vor mir, bis ich meinen Kopf auf seine Schulter lege.
Cassy: Es tut mir leid..."Erst danach atmet er wieder aus, die Spannung fällt nach und nach ab und er steht entspannter vor mir, als es zuvor der Fall gewesen ist. Jetzt allerdings fallen bei mir die letzten Dämme, sodass ich meine Augen zukneife.
Cassy: Ich dachte all die Jahre, dass du...dabei war es das gar nicht. Ich habe nicht gesehen, dass du immer da warst. Dass du dein Bestes gegeben hast. Dass du immer nur mein Bestes wolltest. Es tut mir so unfassbar leid..."
Als sich mein Kiefer anspannt, da ich sonst ein Schluchzen von mir geben würde, spüre ich die Hände meines Vater auf meinem Rücken und dann lasse ich mich fallen. Das erste Mal seit einer langen Zeit fühle ich mich wie zu Hause.Vorsichtig lösen wir uns irgendwann voneinander, wobei mein Vater seine Hände auf meiner Schulter liegen lässt. Einen Moment schaut er mich an, mustert mich.
Cassy: Mir geht es gut, keine Sorge."
Chris: Wo warst du die letzten Tage? Du hast auf nichts reagiert, ich konnte dich nicht erreichen und habe mir etliche Gedanken gemacht."
Cassy: Ich war bei Michelle und Torsten."
Er weiß sofort, wen ich meine. Scheinbar schockiert es ihn etwas, dass ich bei meinen Großeltern und bei seinen Schwiegereltern gewesen bin.
Chris: Warum?
Cassy: Sie waren die einzigen, die mir die Wahrheit sagen konnten. Dass ich dir all die Jahre zu Unrecht die Schuld für alles gegeben habe und dachte, du wärst jemand anderes...es tut mir so leid...verzeih mir bitte..."Mit meinem Ärmel muss ich mir über meine Augen wischen und trotzdem schaue ich meinen Vater die ganze Zeit an. Dieses schwache Lächeln bei ihm, habe ich lange nicht gesehen und dabei ist dieses komplett ehrlich.
Chris: Ich war dir nie böse, Cassy. Ich hätte etwas tun können, mit dir reden sollen, aber dachte, es würde nichts bringen. Ich war immer zu feige."
Wir stehen uns in unserem Haus gegenüber, aber das erste Mal seit langem habe ich wieder das Gefühl, ich kenne die Person, die da vor mir steht. Das erste Mal will ich ihn wieder als ein Vater ansehen. Das erste Mal will ich wissen, was er denkt, fühlt und wie das Ganze für ihn gewesen ist.
Cassy: Können...wir bitte nochmal von vorne anfangen?"Für mich ist es das: Ein Neuanfang. Vor vier Jahren wurde unser beider Leben so zerstört, dass es in Bruchteile zurückgelassen wurde. Aber heute will ich einfach, dass wir das irgendwie wieder zusammenfügen können. Denn ich will als Tochter mit meinem Vater wieder in Ruhe und Frieden zusammenleben können. Und das zuerst noch verlegende, aber danach recht glückliche Lächeln meines Vaters, sagt mir das gleiche.
Chris: Immer...ich würde mich freuen, Cassy...
DU LIEST GERADE
Nameless to You
Fanfic»Es heißt immer, dass alles im Leben einen bestimmten Grund hat, aber manchmal würde ich diesen nur zu gerne wissen!« Ein anfangs normaler Herbsttag im November zerstört in diesem Fall eine gesamte Familie und keine erbrachte Mühe scheint das Ausmaß...