Nameless to You

Kapitel 64

Sicht von Chris...

Die Fähre legt in Harlesiel morgen gegen 13 Uhr ab. Neben den ganzen Dateien, die ich gerade für die Arbeit geöffnet habe, sind auch die Termine der Fähren und die Angaben der Unterkunft auf Wangerooge immer geöffnet. Es ist der erste Urlaub, in den Christina und ich fahren, seitdem Sarah den Unfall hatte. Ich will einfach, dass alles perfekt wird.

Christina hatte vor wenigen Tagen ihren letzten richtigen Schultag, hat ihr letztes Zwischenzeugnis bekommen und sitzt die meiste Zeit jetzt zu Hause vor ihren Unterlagen und lernt für die Prüfungen. In den vergangenen Wochen war ich immer wieder weg und selbst wenn ich zu Hause anwesend war, dann hatte ich noch immer Arbeit dabei. Die große Show kommt immer näher, sie findet in zwei Monaten schon statt und dabei fehlen noch so viele Sachen oder ich denke, ich vergesse wieder etwas. Dazu kommen die ganzen neuen Illusionen, die wir noch proben oder gerade beenden. Immerhin liefen die Proben mit Sina immer gut und scheinbar hat sie sich gut hier eingefunden. Für einen Moment lasse ich mich in den Sitz fallen. Die Proben für die Tage sollten gelaufen sein. Eigentlich wäre hier alles fertig, sollte ich nicht vor meinem Urlaub die Sachen an die Gewerke schicken, damit ich wirklich Ruhe habe.

Jemand entschuldigt sich, die Tür fällt zu und ich schaue auf, wobei ich einen Moment brauche, bis ich wieder klar sehe. Etwas zu lange auf den Bildschirm gestarrt. Schüchtern steht Sina mit im Büro, schaut mich mehr oder weniger an, da sie ihren Blick immer wieder auf den Boden vor sich richtet.
Chris: Kann ich was für dich tun?"
Sina: Ich wollte wissen, ob du den Plan für die nächsten Shows bereits fertig hast? Andreas meinte, ich solle das bei dir nachfragen."
Ich wusste, ich habe etwas vergessen.
Chris: Ich muss drüber hinweg gekommen sein. Wenn du aber einen Moment hast, dann kann ich das eben schnell fertig machen. Es ist fast alles geschafft."
Sina: Das ist okay, ich habe noch etwas Zeit. Willst du auch einen Kaffee?"
Einen Moment schaut sie mich genauer an, wobei sie recht schnell ihren Blick wieder auf andere Sachen lenkt. In den letzten Nächten habe ich kaum Ruhe gefunden, habe einiges noch aufgearbeitet und bin vor drei Tagen sowieso erst wieder nach Hause gekommen.
Chris: Ja, ein Kaffee würde ganz gut tun, danke."

Von Beginn an hatte ich keine großen Schwierigkeiten mit Sina auszukommen. Sie ist allerdings ganz anders als ihre Vorgängerin. Viel zurückhaltender und ruhiger. Ihre Arbeit versteht sie sehr gut und konnte alles so umsetzen, wie wir es wollten. Mit mir kommt sie auch aus, aber sie ist nicht ansatzweise so anhänglich wie Karina. Wir sprechen miteinander, können in Ruhe reden und Zeit zusammen verbringen in gewissen Maßen, aber mehr auch nicht. Meinetwegen könnte sie für die gesamte nächste Tour bleiben.

Als Sina wieder zu mir kommt, reicht sie mir die Tasse rüber, wobei ich recht voreilig einen Schluck trinke, bevor ich doch nochmal aufstehen muss.
Chris: Meinen Kaffee trinke ich noch immer mit ein wenig Milch, Sina."
Ich kann darüber lachen. Sie ist nicht dafür da, dass sie mir den bringen muss, daher ist es auch okay, dass sie das immer wieder vergisst. Auf einen der Tische steht noch etwas von vorhin, als mein Bruder und ich zusammen hier gearbeitet und eine Tasse getrunken haben. Ihr ist es sichtlich unangenehm, dass sie es wieder vergessen hat, wobei ich ihr beim Weg zurück an meinen Tisch nur zeige, dass es mich nicht stört.
Sina: Mit etwas Milch, genauso wie bei Christina."

Ich lasse es mir hoffentlich nicht anmerken, aber ich muss stutzen, als sie das anspricht. Wie meine Tochter ihren Kaffee trinkt, weiß du, aber meinen merkst du dir nicht?
Sina: Ich störe dich auch wirklich nicht? Sollte es gerade nicht gehen, dann kann ich auch noch warten, Chris."
Chris: Keine Sorge, dass geht eben schnell. Außerdem bin ich ab morgen erstmal 10 Tage im Urlaub und nicht erreichbar."
Sina: Darf ich fragen, wo es hin geht?"
Chris: Ich fahre mit meiner Kleinen nach Wangerooge. Der erste richtige Urlaub, den wir seit vielen Jahren zusammen haben."
Sina lächelt ein wenig und trinkt danach etwas aus ihrer Tasse. Sie fragt nicht weiter nach, weil sie nicht aufdringlich erscheinen will. Ich habe das immer an Karina gehasst, das weiß sie, daher fragt sie nicht nach. Aber dass sie passiv mehr über Christina weiß...seltsam, dass sie ihr gegenüber recht aufdringlich ist.

Die Datei ist schnell gefunden und die Sachen, die mir Andreas vorhin geschickt hatte, kann ich daher auch schnell eintragen, bevor ich sie weiterleiten könnte.
Chris: Hast du dich gut hier eingefunden? Du kamst ja nicht von hier."
Sina: Es war etwas schwer, dass ich Bremen hinter mir lassen musste, aber ich wollte nochmal von vorne anfangen."
Chris: Familiäre Probleme?"
Sina: Nein, man hört es mir zwar nicht an, aber die wohnen noch immer in einem kleinen Dorf in Polen. Nur ich bin vor sieben Jahren hergekommen. Aber mein Ex meinte es nicht so gut mit mir."
Auch wenn sie kein weiteres Wort darüber verlässt, ich kann mir im Ansatz denken, was vorgefallen sein kann. Da waren die Spielchen von Sarah noch harmlos.
Chris: Tut mir leid."
Sina: Jeder trägt sein Laster mit sich. Es geht am Ende darum, was man daraus macht. Vielleicht kann Enger jetzt für mich eine neue Heimat werden."
Chris: Wenn wir was für dich tun können, sag uns immer gerne Bescheid."
Sina: Danke."

Der Drucker gibt sein übliches Geräusch von sich, das Blatte nehme ich entgegen und kann es Sina danach über den Tisch reichen. Mit ihren schwachen Lächeln nimmt sie es dankend an und steht im nächsten Moment mit ihrer Tasse auf.
Sina: Danke, Chris."
Chris: Dafür nun nicht. Immerhin gut, dass du aufpasst, dass du alles beisammen hast."
Sina: Gehört zum Job dazu. Ich wünsche dir jetzt erstmal gute Erholung im Urlaub. Kommt...sie auch auf Tour mit?"
Chris: Für die kurze Zeit der restlichen Ferien, Ja. Und dann zwischen den Prüfungen."
Nicht das schüchterne Lächeln, was sie mir immer zeigt. Dieses Mal bekomme ich ein etwas verlegenes und zugleich glückliches Lächeln zu sehen, bevor sie geht.

Die Arbeit an meinem Mac zieht vorbei, aber immer wieder bleibt mir der letzte Blick von Sina in Erinnerung. Nein, mir ist sie nicht aufdringlich oder interessiert gegenüber...