Kapitel 82

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Einmal am Abend möchte ich nicht aussehen, als hätte ich den gesamten Tag einfach nichts getan und als wäre mir alles vollkommen egal. In den vergangenen Tagen sah ich gefühlt immer gleich aus, habe immer irgendein farbloses Shirt und darüber eine dünne Sweatjacke getragen, da es im Stadion immer unfassbar warm gewesen ist. Die Welle in meinem Haar, weil ich immer einen Zopf getragen habe, sagt auch alles über diese Situation aus.

Eine Dusche löst zumindest mein Haarproblem und der Föhne trocknet sie in der richtigen Zeit. Gerade lebe ich aus dem Koffer und suche dort auch meine Sachen zusammen, während ich nebenbei YouTube auf meinem iPad laufen lasse. »REALITÄT VS SOUND 4 (SPECIAL FOLGE)« von Julien Bam ist gelaufen, da habe ich gerade mal den Koffer aufs Bett gehievt und alles, was ich brauchen könnte, liegt daneben. »Musik im ALLTAG (mit CrispyRob)« von Rezo hält so lange an, bis ich meinen Schmuck auf den Nachttisch gelegt habe und »LIEBE – FRÜHER vs HEUTE« von ApeCrime ist das letzte Video was ich angeklickt und nebenbei gesehen habe, bevor ich von M00sician einfach den Part 150 von Animal Crossing laufen lasse, damit ich mich mal konzentrieren kann. Fokus, Christina! Du hast nicht mehr viel Zeit! Mein eigenes Chaos liegt vor mir und ich versuche nicht zu schreien. Sina weiß einfach immer, was angebracht ist und da mache ich mir keine Sorgen. Sie hatte mich aber immer nur in so weniger ernst gemeinten Klamotten gesehen, weil ich mir für die Halle oder so neben den Prüfungen, weniger Mühe gebe. Und jetzt habe ich Angst, ich könnte alles ruinieren. Du willst dich mit ihr treffen, damit ihr einander kennenlernen könnt, dann solltest du auch einfach so sein, wie du bist.

Die Jeansjacke meines Vaters hängt über den Stuhl, da ich die auf jeden Fall tragen will. In meinem Koffer krame ich dann doch mein schwarz-weiß kariertes Flanellhemd heraus – ja, mehr oder weniger knitterfrei – und suche mir noch ein weißer Top raus, damit ich das darunter anziehen kann. Meine graue Jogginghose muss jetzt weichen und dafür ziehe ich meine schwarze Cargohose mit weißen Nähten an. Meine Piercings trage ich immer, die Kette nehme ich von Tisch und meine drei Ringe stecke ich mir auch noch an. Das bin ich, das ist Christina Reinelt und entweder sie findest das okay, oder wir lassen es.

Mit meinem Handy und der Schlüsselkarte in der Tasche verlasse ich, mehr oder weniger zur richtigen Zeit, das Zimmer, damit ich mit dem Fahrstuhl in die Lobby fahren und das Hotel danach verlassen kann. Ich muss mich nicht lange umschauen, da ich Sina sehr schnell wahrnehme und auf sie zugehe.
Christina: Sorry, ich habe es irgendwie nicht so mit der Pünktlichkeit."
Ich komme zu ihr hin und sie dreht sich in meine Richtung. Wie gesagt, sie weiß einfach immer, was angebracht ist. Ihr blondes Haar ist zusammengebunden, wobei einige Strähnen im Gesicht entlang hängen. Die schwarzen Chucks passen eigentlich gar nicht zu den schwarzen Kleid, was locker an ihr fällt und nur an der Taille durch einen Gürtel gehalten wird. Sie ist einfach das komplette Gegenteil von mir.
Sina: Alles gut. Ich bin auch gerade erst rausgekommen. Wollen wir?"
Bevor irgendein Wirrwarr aus meinem Mund kommen würde, nicke ich still und zeige ihr mit einer kurzen Kopfbewegung, wo wir langgehen sollte. Google Maps sei Dank.

Der kleine Tisch reicht für uns beide aus und während Sina die Sicht über die Stadt bestaunt, versuche ich noch einige Details an ihr wahrzunehmen. Sie ist so anders als Velory, aber gut anders. Sina ist auf ihre Weise besonders. Die Terrasse hier ist gut besucht, immerhin steht das Wochenende gerade aber auch an, da ist das kein Wunder. Unsere Getränke stehen vor uns. Im Gegensatz zu mir trinkt Sina einen Rotwein, ich habe mir was ohne Alkohol bestellt, was den Kellner zuerst etwas verwirrt hatte.
Sina: Gibt es einen Grund, warum du nicht trinkst?"
Während Sina einen Schluck aus ihrem Glas nimmt, nehme ich dieses kleine Schirmchen aus meinem heraus und lege es auf dem Tisch ab.
Christina: Ist für mich einfach alles bitter. Außerdem habe ich immer gesehen, was es mit meinen "Freunden" gemacht hat. Vielleicht irgendwann, aber gerade bin ich froh, dass mein Körper das Rauchen wieder abarbeitet."
Sina: Heutzutage ist es fast schon normal, dass man trinkt. Ich habe wegen Freunden angefangen, aber bin mittlerweile beim Wein oder ähnlichen geblieben."

Alles, was wir miteinander besprechen, ist so seltsam, weil wir so wenig voneinander wissen. Ich weiß einzig, dass sie für meinen Vater arbeitet und dass ihr Ex nicht so gut mit ihr war, daher ist sie in unsere Nähe gezogen. Und ich bin halt die Tochter des Chefs.

Den Pfirsich schmecke ich sehr klar heraus, als ich das erste Mal etwas aus meinem Glas zu mir nehme. Bevor ich jetzt auch noch mit dem Strohhalm anfangen zu spielen, – einen Dank an meine verdammte Nervosität – wende ich mich an Sina.
Christina: Wie alt bist du überhaupt?"
Sie kann darüber lachen. Solche Fragen kann ich nicht subtil in einem Nebensatz fragen, dafür habe ich zu wenig Ahnung von derlei Dingen. Aber scheinbar verübelt sie es mir nicht, immerhin lachen wir beide.
Sina: Ich werde noch 25 dieses Jahr."
Und sie ist einfach mal sechs Jahre älter als ich, perfekt. Aber mein Vater hatte nichts dazu gesagt. Dass ich an der Antwort strauchle, merkt auch Sina.
Sina: Du bist vermutlich einiges jünger, richtig? Immerhin ist Chris auch erst 34, oder?"
Christina: Ich bin 19. Mein Vater war nicht ganz 15, als er Vater geworden ist."
Ich kann ihr ansehen, dass sie darüber leicht schockiert ist, aber nicht auf diese abwertende Art und Weise, wie ich es oft schon zu spüren bekommen hatte.
Sina: Krass, dass er das alles unter einen Hut bekommen hat."
Christina: Ich bin da auch unfassbar stolz auf ihn und bin dankbar, dass er mein Vater ist."
Sina: Das glaube ich dir. Er gibt immer sein Bestes und wenn er mir zu Beginn gleich eine Ansage macht, dass ich es mir nicht mit seiner Tochter verspielen soll, meint er das wohl ziemlich ernst."

Ich will über die Sache lachen, kann es auch und zu gleichen Teilen will ich noch immer im Erdboden versinken, wenn ich daran denke. Er würde alles für dich tun, damit er weiß, dass es dir gut geht. Und trotz dieser Ansage hat sie es gewagt, mit mir was zu machen und hatte nicht aufgegeben. Irgendwie süß.

Sina setzt sich weiter an den Tisch ran und kommt mir daher etwas näher, wobei dieser Tisch zwischen uns ist. Zu dem Zeitpunkt: Zum Glück ist dieser Tisch zwischen uns.
Christina: Ich sollte dich noch von meinen Vater grüßen."
Sina: Warum das denn?"
Ihr nervöses Lachen verrät, dass sie sich etwas Sorgen macht. Die Konsequenz war immerhin, dass sie ihren Job verliert, sollte sie was anstellen. Ich denke allerdings, dass es nicht darum ging, sollten wir auf gute Weise nicht harmonisieren. Man muss ja nicht gleich das abziehen, was Karina getan hatte.
Christina: Ich hatte mir die Jacke von ihm geliehen und wollte gehen. Er konnte sie scheinbar irgendwie denken, dass ich heute Abend noch mit dir weggehe."
Die leichte Röte in ihrem Gesicht passt zu ihren leicht rosanen Lippen. Sina möchte etwas trinken, zögert davor allerdings und schaut zu mir hin.
Sina: Ich mag deinen Stile. Du hast etwas eigenes an dir."
Christina: Danke. Die meisten anderen sagen mir immer wieder, dass ich zu maskulin wirke. Das typische Aussehen einer lesbischen Person."
Sina: Wenn andere noch immer in stereotypen denken müssen, sollte sie so langsam mal im 21. Jahrhundert ankommen."

Ich schätze ihre direkte Art, die sie selbst vermutlich oft nicht bemerkt. Dass sie aber genau das sagt, was sie in den Moment denkt, macht die Gespräche mit Sina gerade so angenehm. Dass man sich nicht verstellen muss.
Christina: Labelst du dich selbst?"
Sina muss darüber lachen, zuckt im nächsten Moment mit ihren Schultern, bevor sie endlich etwas aus ihrem Glas trinkt, was sie seit einigen Minuten immer und immer wieder angedeutet hatte.
Sina: Auch wenn ich Mitte zwanzig bin, ich versuche mich selbst immer wieder noch zu verstehen, wenn das irgendwie logisch klingt."
Ich habe vor einem halben Jahr auch erst erfahren, dass mein Vater scheinbar Bi ist und selbst da ist er sich nicht sicher...und er ist 34.
Christina: Ich hatte damals auch gebraucht, bis ich es mir eingestehen konnte."
Sina: Aber du gehst dafür sehr offen damit um."
Christina: Weil es für mich so richtig ist. Die Liebe ist nicht anders, ob ich jetzt einen Mann oder eine Frau gut finde. Außerdem ist es mein Leben und wenn ich für mich weiß, mit wem ich die Zeit verbringen will und wer mich glücklich macht, kann mir die Meinung der anderen recht egal sein."

Während Sina an meinen Worten hängt und langsam auf ihren Lippen mir ein sanftes Lächeln zeigt, ergreife ich einmal in meinen verdammten Leben die Initiative und lege meine Hand auf ihre. Ich halte die Luft an, während sie darauf starrt und atme erst wieder richtig, als Sina meine Hand festhält.
Christina: Und gerade machst du mich ziemlich glücklich."
Sie versucht nicht zu grinsen, aber scheitert an den Versuch kläglich. Kurz wendet Sina ihren Blick von mir ab, setzt zum Satz an, wartet, bis wir einander wieder ansehen.
Sina: Ich hoffe dann einfach mal, dass ich es nicht verkacke."
Christina: Die Ansprüche sind mittlerweile sehr gering. Du hast mich immerhin nicht für meinen Vater sitzenlassen, da bist du auf einen sehr guten Weg."

Wir beide fangen an zu lachen und würde man unsere Gespräche verfolgen, könnte man einiges hinterfragen. Aber das ist eine der ersten Abende, an denen mir irgendwie alles egal ist. An denen ich denke, dass alles wirklich wieder gut wird und bleibt...

Nameless to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt