Kapitel 26

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Das Büro des Schulleiters kenne ich leider noch von damals. Als ich dort hingeschickt wurde, als mir gesagt werden musste, dass meine Mutter einen Unfall hatte. Jetzt stehe ich aber vor der Tür und darin sind Herr Evers und mein Vater, die sich über das unterhalten, was ich angerichtet habe. Eine super Woche. Eine wirklich grandiose Woche für dich, Christina. Toll gemacht!

Meinen Kopf lasse ich leise gegen die Wand fallen und schließe meine Augen. Ist nicht so, dass ich mich in den letzten Minuten nur darauf konzentriert hätte, was die da besprechen, aber ich will auch nichts verpassen, obwohl ich es kaum hören mag.
Chris: Wie geht es ihr?"
Herr Evers: Sie hatte Glück. Nur einen gebrochenen Arm, der wird aber wieder. Für eine Nacht bleibt sie im Krankenhaus."
Chris: Es tut mir wirklich leid, ich weiß gerade nicht, was mit Cassy los ist."
Herr Evers: Velory kann sich nicht daraus reden. Mitschüler haben mir berichtet, dass sie sich über die Mutter von Ihrer Tochter lustig gemacht hat."

JA! Und auch wenn sie nicht weiß, was passiert ist, es macht das alles nicht besser! Alles, was sie gesagt hat, hätte mich so oder so verletzt und sie hat es einfach immer nur noch schlimmer gemacht!
Chris: Trotzdem keine Entschuldigung für ihr Verhalten."
Herr Evers: Natürlich, aber ich denke...es ist gerade etwas viel."
Darauf kommt keine Antwort von Chris. Vermutlich nickt er aber einfach und bestätigt dadurch die Aussage von Herrn Evers.
Herr Evers: Mit der Fachleitung haben wir entschieden, dass Ihre Tochter für die kommenden zwei Tage beurlaubt wird. Es wird keine Folgen haben, aber vielleicht braucht sie die, damit sich alles etwas legen kann."
Was sollte sich denn legen? Mein Leben, was seit vier Jahren kontinuierlich den Bach runter geht, wird nicht von heute auf Morgen eine Wendung erfahren. Diese Gleichung habe ich auch verstanden, ohne, dass ich sie mathematisch berechnen musste. Es sind einfach nur zwei Tage, wo ich mit Chris zu Hause hänge, nichts tun kann und in meiner eignen Stille versinke. Kann der Tag noch schlimmer werden?

Die Stühle im Raum werden hin und hergeschoben und kurz darauf bekomme ich mit, dass beide aus der Tür zu mir in den Flur kommen. Auch wenn ich es zuerst nicht will, ich schaue auf und sehe zuerst den Schulleiter. Danach meinen Vater. Aus seinem Blick kann ich nicht viel entnehmen, aber glücklich oder entspannt ist er definitiv nicht.
Herr Evers: Nehmen sie Ihre Tochter mit nach Hause. Wir geben ihrer Tutorin und den Fachlehrern Bescheid. Wir werden es diskret behandeln."
Chris: Ist gut, vielen Dank."
Herr Evers: Dafür nicht. In den kommenden Tagen kommen die Aufgaben über Iserv, verstanden Cassy?"
Cassy: Verstanden..."
Ich hoffe nicht, dass ich beleidigt geklungen habe, aber was sollte ich anderes tun? Es ist so, ich kann es nicht mehr ändern und hoffe, dass die Tage schnell vorbei gehen.
Herr Evers: Ich wünsche Ihnen noch einen guten Tag, Herr Reinelt."
Chris: Danke, Ihnen auch."
Ich verabschiede mich nur mit einen nichtssagenden Lächeln, weil ich hier weg will. Dabei will ich auch keinen falls nach Hause kommen.

Die Fahrt in dem alten Golf von Chris war mehr als bedrückend. Keiner sprach nur ein Wort. Ich starrte aus dem Fenster und versuchte so leise wie möglich zu sein. Das Radio war ausgestellt und immer wieder hörte ich kleine Fetzen von den Gespräch, was Chris wohl mit sich selbst austrägt. Meine Hände falte ich zusammen, schiebe meine Ringe umher und will, dass das hier vorbei ist. Jetzt WILL ich in mein Zimmer.

Zu Hause angekommen hat Chris die Tür aufgeschlossen. Meine Schuhe stelle ich dabei so schnell wie möglich in den Flur und hänge die Jacke an der Garderobe auf. Ich mache alles, damit ich so schnell es geht zur Treppe komme, aber bevor ich diese erreicht habe, werde ich von ihm am Arm gepackt und wieder zurückgezogen.
Cassy: Was machst du da?"
Chris: Das sollte ich wohl dich fragen. Cassy, am Samstag wirst du mir von der Polizei nach Hause gebracht und heute ruft mich dein Schulleiter an, dass du jemand anderes die Treppe runtergeschmissen hast."
Cassy: Sie hat sich über Mama lustig gemacht."
Chris: Das rechtfertigt es nicht. Das rechtfertigt nichts niemals."

Chris geht sich mit seiner rechten Hand durchs Haar, atmet durch und lässt seinen Kopf einen Moment in den Nacken fallen. Wieder kommen mir die Tränen auf.
Cassy: Ich wollte das nicht..."
Chris: Ja, Cassy, du wolltest das nichts. Aber das bedeutet rein gar nichts. Wäre sie mit den Kopf aufgekommen, hätte sich den Schäden eingeschlagen und läge jetzt im Koma oder wäre tot, wäre dieser Satz »Ich wollte das nicht« auch belanglos."
Aufgebracht schaut er sich um, gestikuliert leicht mit seinen Händen. Ich wollte das nicht! Aber das kannst du natürlich nicht verstehen!
Chris: Das bist nicht mehr du, Cassy."
Cassy: Du weißt doch gar nicht, wer ich bin!"

Die Ahnungslosigkeit und Verwirrung steht ihm ins Gesicht geschrieben. Dazu weicht er ein paar wenige Schritte aus, lenkt seinen Blick aber nicht einen Moment von mir ab.
Cassy: Das einzige, was du in den Jahren getan hast, war zu arbeiten mit deinem Bruder! Für den warst du immer da, aber nicht für mich! Du hast doch keine Ahnung, was ich mache, wer ich bin, was ich mag und hasse!"
Chris: Cassy..."
Cassy: Ich habe immer einfach zugelassen, dass ich hinter allem stehe! Dass ich scheinbar nur ein Fehler bin und nicht mehr! Dass du mich niemals wolltest! Dass du mich niemals lieben könntest! Ich bin deine Tochter, aber das Gefühl habe ich von dir nie bekommen! Ich war einfach da! Eine Last! Irgendwas und irgendjemand!"
Chris: Cassy."
Cassy: NEIN! Ich will hier einfach weg! Ich wollte hier nie sein! Du hast keine Ahnung, was du angerichtet hast! Was du mir angetan hast! Du bist der Vater, den ich nie haben wollte! Du bist ein schrecklicher Vater!"
Chris: Ich weiß! Ich weiß das alles!"

Ich stocke, weil er es bestätigt und weil er mich angeschrien hat. Chris hat noch nie vor mir geschrien. Er konnte immer die Ruhe bewahren und jetzt...schüchtert er mich ein.
Chris: Ich weiß das alles, denn ich kann es nicht! Ich weiß das alles nicht! Ich habe davon keine Ahnung! Ich wollte das alles nicht! Ich gehöre hier nicht hin! Ich weiß, dass ich ein grauenhafter Vater bin!"
Er wird nur leise, weil seine Worte in seinen Tränen langsam übergehen und ich ihn dadurch kaum verstehen könnte. Ich hingegen kriege allgemein kein Wort mehr raus und stehe still schweigend vor ihm.
Chris: Ich war nicht Mal 15 Jahre alt! Ich war selbst noch ein Kind! Ich ging zur Schule, wollte Freunde treffen, ins Ausland für ein Jahr! Ich wollte normal leben! Und plötzlich musste ich das alles können! Ich wusste selbst nicht mal, was ich mit mir anfangen soll!"
Vielleicht war es die bittere Wahrheit, die mir in den ganzen Jahren gefehlt hatte. Dass er mir das jetzt alles einmal vorhält, was ich ignoriert habe, obwohl ich es wusste.
Chris: Ich habe früh gemerkt, dass du mich nicht willst! Und auch wenn du es nicht hören willst, daran ist Sarah schuld! Sie hat dir ein Bild geschaffen, was du glaubst! Denn ich weiß sehr viel von dir! Ich kenne dich! Ich liebe dich! Aber du willst das einfach nicht sehen, weil es nicht in dein Verständnis passen würde!"

Wieder hat er Mama angesprochen. Wieder holt er mich zurück in etwas, was uns dazu gebracht hat, dass wir beide uns jetzt hier gegenüberstehen.
Cassy: Du weißt rein gar nichts! Du weißt rein gar nichts über mich!"
Chris: Dein Spitzname kommt von deinen Freunden, weil du nicht an mich erinnert werden wolltest! Eigentlich waren das auch nie deine richtigen Freunde, du wolltest nur raus! Du hast für sie immer den Alkohol gekauft, trinkst selbst aber gar nichts! Du hast deswegen mit 17 angefangen zu rauchen! Du spielst Klavier wegen deine Mutter, weil du ihr Lieblingslied lernen wolltest!"
Ich verstumme, schaue zuerst noch zu ihm hin, danach aber langsam zum Boden. Woher weiß er das? Woher weiß er das über mich?
Chris: Du spielst bei der U23 Herforder SV Borussia Friendenstal 2. Dabei spielt ihr in der Bezirksliga, da die erste Mannschaft in der Westfalenliega spielt. Du bist Stürmerin mit der Nummer 11, wegen deiner Mutter. Seit der jetzigen Saison bist du in der Start 11, die letzten fünf Spiele vor der Winterpause habt ihr alle gewonnen und seid in der Mitte der Tabelle."
Cassy: Woher weißt du das?"
Mein undeutlichen Nuscheln habe ich fast nicht verstanden, aber ich schaue auf und dann weiß er schon, was ich gefragt habe.
Chris: Weil du meine Tochter bist, die ich liebe. Auch wenn du das nicht sehen willst..."

Zuerst stehe ich stumm im Flur, aber bevor er irgendwas weiteres sagen kann, laufe ich an ihm vorbei und danach die Treppe rauf. Ich schließe mich in meinem Zimmer ein, lehne mich zuerst nur gegen die Tür, gleite aber langsam an der herunter, bis ich auf dem Boden sitze und leise für mich weinen kann. Was soll ich denn bitte glauben? Was sollte ich denn bitte wissen? Diese bitterernste Wahrheit hatte ich von Chris zu keinem Zeitpunkt erwartet. Dass er mich anschreit und mir sagt, dass ich irgendwo Recht habe...aber das Mama auch daran schuld sein soll. Was soll ich denn machen, wenn mein ganzes verdammtes Leben auf einer Lüge basiert? Um die Wahrheit zu wissen, kenne ich einzig zwei Menschen, die mir daraus helfen könnten und ich brauche Antworten...

Nameless to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt