Kapitel 78

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Sicht von Christina...

Es ist fast zwei am Morgen, als ich noch immer auf dem Sofa im Hotelzimmer sitze und auf meinem Vater warte. In den vergangenen Stunden habe ich etwas gegessen, eine Staffel meiner Serie durchgeschaut und bin immer wieder eingeschlafen. Zwar hätte ich auch nachfragen können, wann er zurückkommen wird, aber da dachte ich, dass ich ihn einfach nur nerven würde. Das will ich auch nicht.

Ich vermisse meinen kleinen Kater. Mittlerweile ist er gar nicht mehr so klein, aber ohne ihn bin ich hier gerade ziemlich einsam. Vor mir auf dem Tisch liegt das Buch, was mit mein Vater vorhin noch gegeben hatte. Auch wenn es etwas Überwindung gekostet hat, am Ende war es das Beste, dass ich es gelesen hatte. Neben den Notizen meines Vaters, wo er immer wieder das geschrieben hatte, was er mir in den Jahren nicht zeigen konnte und den Notizen meiner Mutter, die irgendwie zu ihr passten und nicht wirklich viel aussagten, war da eine einzige, dazu auch die letzte Seite, dessen Schrift ich nicht erkennen konnte. Sie gehörte weder zu meinem Vater, der einen Misch aus Druck- und Schreibschrift hat, noch zu Mama, die immer in schöner und geschwungener Schreibschrift geschrieben hatte. Irgendjemand hatte mit einem echt schönen Füller dort geschrieben und ich hoffe, dass mein Vater mir sagen kann, wer das war. Ein Geist wird wohl kaum was geschrieben haben...hoffe ich.

Mein Handy leuchtet auf und ich sehe die Benachrichtigungen, die ich den Tag über nicht bemerkt oder passiv ignoriert habe. Die Jahrgangsgruppe schreibt über die Ergebnisse und wer noch so in die Nachprüfung rückt. Bolin hatte mir auch nochmal geschrieben, dass er sich mit seinen Ergebnissen an seine Wunschuni einschreiben kann und dass er sich freut, dass ich bestanden habe und weiß, was ich machen werde. Und ganz neu dazugekommen ist eine Nachricht von Instagram.

Ehrlich Brothers hat gerade ein Foto geteilt

Ich lasse mich gegen die Lehne des Sofas und meinen Kopf nach hinten fallen. Wie lange sollen die denn noch brauchen!? Genervt atme ich aus, stehe im nächsten Moment doch von meinem Platz auf und gehe ins Badezimmer, damit ich mich zum Schlafen fertig machen kann. Noch eine weitere Stunde warten, halte ich nicht aus, dann schlafe ich nur auf dem Sofa ein und verpasse meinen Papa. Haare für die Nacht zusammenbinden, Zähne putzen und ein anderes Shirt mir überziehen, weil es ansonsten viel zu warm werden würde. Als ich komplett fertig bin, schließe ich die Tür wieder auf und verlasse das Zimmer, nur damit ich im Hauptzimmer des Hotels beinahe in meinen Vater reinlaufe, der gerade seine Jacke aufhängt.
Christina: Warum kommst du jetzt erst wieder?"
Chris: Warum schläfst du nicht schon längst?"
Wir starren uns beide einfach schweigend an, was höchstwahrscheinlich an der Müdigkeit von uns beiden liegen wird. Er sieht deutlich geschaffen aus.
Christina: Ich bin 19 Jahre alt und habe auf dich gewartet, da ich dachte, dass es nicht so spät werden würde."
Chris: Warum hast du bitte auf mich gewartet? Du weißt, dass das immer etwas länger dauert und dass ich nie weiß, wann wir fertig sind."

Für einen Moment starren wir uns beide noch immer müde und eigentlich gar nicht mehr aufnahmefähig an, aber danach gehe ich den Weg zurück zum Tisch, wo ich in einer Bewegung nach dem Buch greife und es meinem Vater wieder vorhalte. Als könnte er wissen, worum es geht, greift er mit seinen Händen nach seinem Haar, geht sich einen Moment nervös dadurch, bevor er den Kopf in den Nacken fallen lässt. Ich hingegen schlage die letzte Seite auf, die beschrieben wurde und deren Schrift ich nicht kenne.

»Sie - Du bist nicht nach mir gekommen und ich bin froh darüber. In den ganzen Jahren waren wir eine Familie, die nie ganz war. Nach außen haben wir funktioniert, aber innerlich wussten wir alle, dass etwas nicht richtig lief. Ich kann die Schuld nicht auf mich nehmen, deswegen bin ich froh, dass sie - du nicht nach mir kommst, auch wenn ich ihr - dir das Gefühl nicht gegeben habe. Irgendwo hasse ich mich dafür und zugleich weiß ich, dass ich ihr - dir das nicht geben konnte. Daher bin ich froh, dass sie - du nicht nach mir kommst. Sie - Du bist empathisch, pflichtbewusst und willst für jeden nur das Beste. Sie - Du bist das Gegenteil von mir, sie - du bist ein Abbild ihres - deines Vaters. Ich würde sie - dich gerne lieben, aber kann es nicht, weil sie - du nicht so geworden bist, wie ich es wollte und das ist ihr - dir gegenüber nicht fair.«

Als ich das Buch auf das Sofa fallen lasse, steht mein Vater noch immer an Ort und Stelle und hat seine Hände in seinem Haar vergriffen. Er spricht kein Wort zu mir, obwohl er genauso gut gehört hat, was ich dort lesen konnte.
Christina: Das hat keiner von euch geschrieben, ich kenne die Schrift nicht und außerdem spricht Mama dort oft von »Ihr« oder »Sie«. Was soll das?"
Chris: Deine Mutter war in psychischer Behandlung und das hatte sie dort aufschreiben lassen in einer ihrer Sitzungen."
Ich meine, sie wird dringend eine Behandlung gebraucht haben, aber warum das? Es ist ein Geständnis, dass sie mich nicht will und niemals lieben wird.
Chris: Ihre Eltern hatten sie dazu überredet."
Endlich löst er sich aus seiner Position und schaut zu mir hin, wobei er einfach nicht näher zu mir kommen mag. Papa steht weiter vor der Badezimmertür, als wolle er so schnell wie möglich wieder wegkommen.
Chris: Michelle und Torsten waren der Meinung, dass es das Beste für sie wäre, damit sie mit ihrem Dasein als Mutter auskommen würde, was mit den Jahren, wo du mir immer ähnlicher wurdest, immer schlimmer wurde. Ihr Psychologe hatte es aufgeschrieben, als sie da war, weil das die ersten wahren Worte waren, die sie über uns verloren hat."

Ich will was sagen, aber zugleich habe ich einfach nichts mehr zu sagen und schaue stattdessen wieder schweigend zu dem Buch hin. Dabei bemerke ich nebenbei, je länger ich dorthin schaue, dass mein Vater sich etwas von seinem Fleck entfernt.
Chris: Was ist los?"
Christina: Sie hat alles getan, dass ich sie nicht an dich erinnere und dennoch ist sie froh, dass ich nach dir gekommen bin. Ihr Handeln ist nicht immer verständlich. Sie hat uns gehasst und zugleich auch geliebt."
Chris: So war sie. Es gab Tage, an denen es zu Hause schrecklich mit ihr war, wo ich die Nächte im Wohnzimmer verbracht hatte. Und dann auch welche, wo sie die Ehefrau war, in die ich mich mit 14 verliebt hatte. Es gab gute und schlechte Tage."
Endlich kommt mein Vater auf mich zu, bleibt bei mir stehen und das so lange, bis ich meinen Blick von dem Buch löse und endlich wieder aufschaue. Warum führen wir dieses Gespräch um halb drei am Morgen?
Chris: Deswegen wollte ich, dass du sie niemals aus der einen Sicht siehst. Du solltest sie nie hassen, wenn sie dir ihr schlechtes Gesicht gezeigt hatte. Genauso wusste sie, was sie tat, bereute es und wollte einfach nur, dass es dir gut geht. Du warst ihr kleiner Spatz, den sie geliebt hat, auch wenn sie das nicht zeigen konnte."

Je mehr ich in den letzten Monaten erfahren hatte, desto weniger habe ich mich mit meiner Mutter verbunden gefühlt. Je mehr mir mein Vater von ihr erzählt, obwohl er das Recht hätte, sie zu hassen, desto mehr verstehe ich, warum er sie geliebt hat und warum ich es genauso tue...

Nameless to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt