Kapitel 27

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Sicht von Chris...

Ich starre, seitdem ich wach geworden bin, immer wieder auf die tickende Uhr in der Küche und versuche meinen Kaffee dabei irgendwie runterzubekommen. Bereits um 10 Uhr konnte ich keinen weiteren Moment mehr im Bett liegen bleiben und das, obwohl ich die halbe Nach wach gelegen hatte.

Cassy ist gestern nicht eine Sekunde mehr unten gewesen. Sie hatte kaum mehr ihr Zimmer verlassen und ist einfach dort geblieben. Ich weiß nicht, ob sie mich aktiv ignoriert oder ob das, was gestern war, einfach für beide von uns viel zu viel gewesen ist. Als der Schulleiter mich angerufen hatte, dachte ich zuerst, dass mit ihr irgendwas ist. Cassy sagt selten, wenn es ihr schlecht geht, wenn sie Hilfe brauchen würde oder wenn sie mal besser einen Tag zu Hause bleiben sollte. Als er mir dann aber sagen musste, dass ich bitte kommen sollte, weil sie eine andere Schülerin die Treppe runtergeschupst hätte, war in mir wieder ein einziges Chaos an Gedanken los. Habe ich irgendwas falsch getan? Habe ich etwas bei ihr übersehen? War ich zu streng zu ihr? Habe ich es übertrieben? Hätte ich es ahnen können? Was ist mit ihr seit einigen Tagen nur los? Cassy hatte niemals Probleme gemacht. Klar, auch sie macht einiges, was mich nicht freut. Ich bin kein Fan davon, dass meine Tochter mit dem Rauchen angefangen hat oder dass sie sich mit solchen Menschen abgegeben hat, aber sowas war niemals Cassys Art.

Der Kaffee wird nach und nach kalt, also somit auch ungenießbar und meine Geduld und meine Nerven habe ich lange schon verloren. Ich kann jetzt aber auch nicht einfach zu ihr gehen. Wenn sie mich nicht sehen will, was wohl der Fall sein dürfte. Vielleicht hasst sie mich einfach jetzt noch mehr, obwohl das kaum mehr möglich sein dürfte. Da ich mir anders nicht zu helfen weiß, und ich brauche irgendjemanden, der mir zur Seite steht, schreibe ich meinen Bruder an. Auch wenn seine Kinder noch deutlich kleiner sind, meine Schwester wird mit ihren beiden, die nicht mal ganz fünf sind, raus sein.
Chris: Kannst du mir irgendwie helfen? Ich glaube, ich habe es mir gestern mit Cassy so richtig verspielt.
Andreas: Was ist denn passiert?
Chris: Ich musste sie von der Schule abholen, weil sie eine andere Schülerin die Treppe runtergeschupst hatte. Sie ist für zwei Tage jetzt beurlaubt.
Andreas: Warum hat sie das denn getan? Das passt ja gar nicht zu ihr.
Chris: Die andere hatte etwas über Sarah gesagt und du weiß, wie empfindlich sie da ist.
Andreas: Geht es der anderen denn gut?
Chris: Gebrochener Arm, sonst alles gut.
Chris: Darum geht es aber gar nicht. Als wir zu Hause waren, hatten wir eine Auseinandersetzung und seitdem habe ich sie nicht mehr unten gesehen.

Bei meinem Bruder wird gerade das schreibt... angezeigt, während ich wiederholt auf die Uhr starre. Vielleicht sollte ich sie einfach lassen. Vielleicht braucht sie ihre Zeit. Aber dass sie nicht ein einziges Mal ihr Zimmer heute verlassen hat. Ist auch für ihre Verhältnisse sehr früh, Christian. Eventuell schläft sie einfach noch.Warum muss ich immer mit solchen Dingen so massiv überfordert sein? Warum muss ich wirklich ein so schrecklicher Vater sein, der mit allem immer überfordert ist?

Mein Bruder hat endlich seine Nachricht zum Ende getippt. Ich schaue auf mein Handy und versuche einen Moment nicht genervt zu sein. Fass dich doch bitte etwas kürzer.
Andreas: Ich kann mir vorstellen, dass das für dich schwer ist und eine Menge. Ich will dir aber eine Sache sage: Du gibst dein bestes. Ich bin 37, habe eine kleine Tochter und zwei Söhne, die nicht mal 10 sind und war seit dem ersten Kind immer massiv überfordert. Keiner kann das, niemand weiß, was richtig ist und was falsch. Du kannst aber auch nicht immer davonlaufen und hoffen, dass es sich irgendwann von selbst regeln wird. Sprich mit deiner Tochter. Setz dich mit ihr auseinander, auch wenn du vielleicht Angst davor haben könntest. Sie braucht dich, auch wenn sie es nicht zugeben will.
Vielleicht ist es so. Vielleicht sollte ich aber mal vor allem aus der passiven Haltung rauskommen, wo ich sie einfach machen lasse und als Nebencharakter in ihrem Leben handle. Außerdem...das von gestern kann ich nicht einfach so stehenlassen.
Chris: Danke, Bruder. Du hast ja recht, auch wenn ich das nicht immer glauben oder sehen will.
Chris: Es ist gerade einfach ein bisschen viel auf einmal.
Andreas: Das glaube ich dir. Sollte etwas sein, ich bin für dich erreichbar.

Das Handy zur Seite legen, nochmal durchatmen und danach aufstehen, damit ich rauf in ihre Etage gehen kann. Es ist nur ein Gespräch, was du schon viel zu lange rausgezögert hast, Christian. Es wird an der Zeit! Vor ihrem Zimmer stehe ich dann, warte einen Moment, bevor ich das erste Mal klopfe. Keine Antwort, weil sie dich nicht sehen will vermutlich.

Es geht so aber nicht mehr weiter. Ich kann nicht einfach wieder runterlaufen und warten, bis sie auf mich zukommen würde. Das ist nicht ihre Art. Daher klopfe ich noch ein zweites Mal, öffne danach aber einfach die Tür.
Chris: Cassy, ich wollte nochmal mit dir sprechen, weil..."
Als ich dann aber beinahe in ihrem Zimmer stehe, bemerke ich, dass sie nicht da ist. Weder in ihrem Bett, noch vor ihrem Tisch oder auf ihrem Balkon. Sie ist hier nicht.
Chris: Cassy!"
Die anderen Räume suche ich durch. An ihrem Klavier ist sie auch nicht und auch in ihrem Arbeitszimmer herrscht gähnende Leere.
Chris: Christina!"
Das Badezimmer ist nicht abgeschlossen und auch dort ist nichts. Einzig Stitch sitzt auf einem Kratzbaum, schlief bis gerade eben und schaut mich gerade genervt an. Wieder schaue ich in ihr Schlafzimmer, aber sie ist nirgends und der Balkon ist auch wirklich zu. Mein Blick geht von der einen zur anderen Zimmerecke, bis ich auf ihrem Schreibtisch ihren Block wahrnehme, wo sie etwas draufgeschrieben haben muss.

»Chris, mach dir bitte keine Sorgen. Ich weiß, dass die letzten Tage etwas viel gewesen sind, auch für mich. Ich muss das jetzt machen, damit ich alles etwas besser verstehen kann. Ich komme wieder, versprochen. Mir geht es gut, aber das muss sein.«

Willkürliche schaue ich umher, bevor mein Kopf auch verstehen kann, was sie gesagt hat. Sie ist weg! Sie ist weggelaufen! Und du Idiot hast es nicht mitbekommen! Warum muss ich alles immer wieder vermasseln!? Wo ist sie bitte hin? Wo ist meine Tochter? Wo ist mein kleines Mädchen? Es gibt nichts, was ihr irgendwie Antworten geben könnte und wonach sucht sie überhaupt? Cassy...komm bitte wieder zurück...

Nameless to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt