Kapitel 23

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Nicht heute. Heute bin ich nicht das kleine und schwache Mädchen, was niemanden interessiert. Ich bin es verdammt nochmal wert und kann das alles. Ich bin es wert, dass mich jemand liebt, dass man mich bemerkt, dass man mich sieht und dass ich irgendwer bin. Ich durchbreche heute diese Kette. Ich will nur jemand sein. Irgendjemand!

Nur ein paar kurze Nachricht an Chris, dann gibt es kein Zurück mehr. Dieser Zaun ist dieser typische Zaun, der auch um unserer Schule steht. Schmales Gitter und oben stehen diese kleinen Enden noch über. Schwer darüber zu kommen, ohne, dass man sich verletzt. Hinter mir stehen Nate und Velory, die mich anstarren und warten, dass ich den ersten Schritt mache. Ich würde einfach anfangen zu klettern, aber die Wahrscheinlichkeit ist dann verdammt hoch, dass ich irgendwie abrutschen würde. Daher schaue ich mich einen kurzen Moment um und sehe den alten Baum an der Seite neben dem Haus, wo man eigentlich für die Karten zahlen würde.
Nate: Wo gehst du hin?"
Ohne Wort laufe ich voran. Einzig aus Wut und Stolz laufe ich dahin, damit ich es der scheiß Welt endlich beweisen kann. Ich bin genug, werde gesehen und werde geliebt! Ich bin all das wert! Die Rinde ist nass, ich rutsche auch hier einige Mal ab, aber es geht besser, als würde ich einfach immer wieder vom Zaun abrutschen. Immerhin komme ich so auf einen nicht sehr stabilen Ast und kann mich über den Zaun hangeln.
Cassy: Kommt ihr endlich nach?"

Natürlich konnte es nicht perfekt laufen, sodass ich irgendwie daneben trete und den letzten Meter halbwegs falle. Dabei stoße ich einige alte Metalltonnen um, aber das ist nicht sonderlich wichtig. Waren sowieso leer und in der Gegend steht nur ein altes Haus, wo ich noch nie jemanden gesehen habe.

Mit verschränkten Armen stehe ich auf der anderen Seite, während Nate und Velory mir versuche nachzumachen. Weniger geschickt, aber sie kommen ebenfalls auf das Grundstück und stehen dann endlich neben mir. Es ist dunkle, kaum etwas ist zu sehen und dieser Ort ist so alt, dass nur in den Gebäude mit der Kasse und dem Tresor eine Kamera ist. Anderweitig wäre es auch zu teuer und zu viel. Danach gehen die beiden vor und ich folge einzig. Komm, seid beeindruck, sagt es endlich! Ihr hättet das nicht geschafft!

Eine der Becken hat eine Rundung, die Nate vorhin gemeint haben muss. Die alte Skateranlage in Herford verliert langsam an Substanz, aber das leere Becken hier scheint tatsächlich ideal. Aus seiner kleinen Tasche holt Nate sein Skateboard und schaut einmal in die Kule, bevor er dieses auf den Boden abstellt.
Nate: Kein Wasser drin, alles trocken und bereit für eine Fahrt. Schaut zu, vielleicht könnt ihr ja noch was lernen."
Nate hat seinen Spaß, Velory schaut ihn die gesamte Zeit an, als würde sie ihn vergöttern, und ich stehe wie ein Bystander am Rand. Zuerst habe ich meinen Blick ebenfalls zu Nate gerichtet, aber irgendwann schaue ich dann doch wieder zu Velory, meine Ex. Was hast du bitte an den Typen gefunden? Warum hast du mich so dermaßen verletzt, damit du jetzt bei Nate sein kann. Was hat er, was ich nicht habe? Fast nicht hörbar seufze ich und lasse danach meinen Kopf hängen. Ich kann mir noch so lange den Kopf darüber zerbrechen, eine Antwort werde ich von ihr nicht mehr bekommen.

Nate steigt von seinem Board ab, klettert die Leiter zu uns raum und kommt dann neben uns zum Stehen. Ich muss wegschauen, als er auf Velory zugeht und sie für einen kurzen Moment küsst. Ich kann mir das nicht mit ansehen.
Velory: Sehr coole Moves, Nate."
Nate: Hier hat man immerhin Platz und auch eine gute Bahn. Im Skatepark ist das einfach nur ein Krampf und dort fliegt man immer wieder auf die Fresse."
Auch wenn es nur ganz leicht und beinahe nicht sichtbar ist, ich muss etwas schmunzeln, ziehe dadurch aber die Aufmerksamkeit von Nate auf mich.
Nate: Willst du kleine Besserwisserin es uns beweisen? Wenn du über mich lachen kannst, dann kannst du es vermutlich besser, oder?"
Ich will dagegen protestieren und Einspruch einlegen, aber im nächsten Moment hält mir Nate sein Board vor. Wenn du es ihnen beweisen willst. Zeig ihnen, dass du es wert bist. Als ich aber kurz davor bin, nach dem Ding zu greifen, wird es plötzlich hell. Ich halte mir eine Hand vor meine Augen und die beiden fluchen irgendein »Fuck«, wo ich mich anschließen könnte. Eine Taschenlampe kann ich erkennen und weiß, es ist vorbei.
Bademeister: Na, wen haben wir denn hier?"

Und dann endet der Abend mit den Moment, dass Velory, Nate und ich mit dem Bademeister, dem dieses verdammte alte Haus gehört, und zwei Beamten der Polizei vor dem Freibad stehen.
Polizist: Wollen Sie Anzeige erstatten?"
Bademeister: Ach, das ist nur ein Streich von Jugendlichen. Sie sollen zu ihren Eltern, die regeln den Rest."
Nate: Wir beide sind keine Kinder mehr, sondern Erwachsene."
Polizistin: Darf ich die Ausweise einmal sehen?"
Ja, Nate und Velory haben den mit, aber ich nicht, da ich dachte, dass ich nur kurz weg gehe und mit Velory rede.
Cassy: Ich habe den nicht mit, aber ich werde im Januar schon 19."
Polizist: Stimmt das?"
Er schaut zu Velory und Nate und hätten sie mich letzte Woche nicht schon verraten, hätten sie es spätestens jetzt wieder getan. Denn beide schütteln mit den Kopf.
Cassy: Verdammte Verräter..."

Dieses dreckige Lachen würde ich ihnen gerne aus dem Gesicht reißen. Warum tut ihr mir das jetzt wieder an? Warum verratet ihr mich dermaßen? Was habe ich euch getan? Ich hätte mich hier nicht drauf einlassen sollen. Warum hat sich mein Verstand nicht bereits dann eingeschaltet, als ich mich auf diese dumme Aktion eingelassen habe? Warum stehe ich jetzt hier? Ich habe mich von meinen inneren Wünschen, meiner Vergangenheit und meinen Schmerz leiten lassen. Ich wollte endlich nur irgendjemand sein. Irgendwas. Und jetzt stecke ich in der Misere.

Die beiden Beamten schauen sich die Ausweise von Velory und Nate an. 19 und 22 Jahre alt. Sie dürfen einfach gehen und ich weiß, dass ich gleich das Problem bekomme, da sie mir auch nicht glauben, dass ich alt genug bin. Nicht Mal die Verkäufer, die mir gefühlt jedes Mal meine Zigaretten verkauft, merkt sich das, sondern fragt immer wieder nach meinem Ausweis.
Polizist: Und du bist?"
Jetzt schaut er zu mir und ich merke, dass mein Spiel gleich vorbei sein kann. Ich stocke und erstarre, da ich dachte, dass die mich einfach nur nach Hause bringen, was schon schlimm genug wäre, aber jetzt auch noch das.
Cassy: Cassy..."
Polizist: Wir brauchen den Vor- und Nachnamen. Auch wenn es keine Anzeige gibt, wir müssen einen Bericht schreiben. Und vielleicht sollen Sie hier Hausverbot bekommen."
Ich schweige und schaue den Beamten an. Und Nate und Velory schauen sich an, lachen innerlich, während ich hier leide. Das Spiel ist aus, du musst es sagen.
Polizistin: Dein Nachname?"
Cassy: Reinelt..."
Wie erwartet, beide lachen und werden von der Frau angehalten, dass sie leise sein sollen.
Velory: Reinelt? Wie diese beiden seltsamen Spinner aus Bünde? Sag nicht, dass du zu denen gehörst."

Ich schaue weg, atme durch und versuche die Gedanken zu verdrängen. Ich habe mir meine Familie auch nicht ausgesucht, aber wagt es euch nicht, etwas gegen sie zu sagen. Nur, weil ich keinen guten Vater hatte, heißt es nicht, dass sein Traum nicht berechtigt gewesen wäre. Ich habe es immer verheimlich und nie jemanden gesagt. Nur Bolin kennt meine Familie, aber kein anderer, weil ich es nicht wollte. Weil ich genau davor Angst hatte. Am Ende kommt aber jede Lüge früher oder später ans Licht und zerstört alles.

Meinen Blick halte ich gesenkt und trete immer wieder auf meinen Füßen hin und her. Die aufkommenden Tränen stecke ich zurück, versuche meine Atmung zu kontrollieren und mein Herz zu beruhigen.
Polizist: Also Cassy Reinelt?"
Sein Stift liegt auf seinem Papier, er schaut zu mir hin, auch wenn ich das gar nicht beachten will. Ich kaue auf meiner Lippe, bevor ich ausatme und das erste Mal wieder aufschaue, damit ich den Mann ansehen kann.
Cassy: Ich heiße Christina Reinelt."
Während der Polizist das aufschreibt, müssen Velory und Nate leise anfange zu lachen. Und auch wenn sie von der Frau verwarnt werden, denen ist das doch egal.
Nate: Gott, du wurdest auch noch nach einen von beiden benannt? Vermutlich ist das dann auch dein Alter."
Cassy: Haltet eure Fresse..."
Ich bekomme keine Verwarnung, dass ich was gesagt habe, aber darf in kommenden Moment mit den beiden Beamten zu deren Auto gehen und mich dort setzen. Das ist der schlimmste Tag in diesem Jahr. Ich möchte am liebsten in Boden versinken.
Polizistin: Wir bringen dich jetzt zu deinen Erziehungsberechtigten."
Immerhin haben sie nicht Vater gesagt.

Ich schaue raus, lasse die Fahrt an mir vorbeistreichen, bekomme aber sehr gut mit, als wir den Hof unseres Hauses erreichen. Wir steigen aus, die Polizisten gehen vor und ich stehe kleinlaut hinter ihnen, als Chris die Tür öffnet.
Polizist: Herr Reinelt, wir müssen Ihnen ihre Tochter vorbeibringen."
Erst dann schaue ich auf und zu Chris hin. Unsere Blicke treffen sich und bei ihn sehe ich tiefes Bedrücken. Es tut mir leid, Chris...

Nameless to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt