Kapitel 11

43 5 3
                                    

Sicht von Cassy...

Der erste Zug der Zigarette am Morgen ist bitter. Meine Kopfhörer, die zu laut meine Musik abspielen, sollen meine Gedanken übertönen, die sich wieder in meinem Kopf ausbreiten. Mit jedem Meter, den ich weiter von zu Hause weg bin, kommen aber nur mehr Gedanken und Erinnerungen auf, die ich nicht gebrauchen kann.

Meinen Kopf lasse ich in den Nacken fallen und für einen kurzen Moment schließe ich meine Augen. Warum versuchst du es jetzt, Chris? Der Zug ist schon lange abgefahren. Was du damals nicht getan hast, musst du heute nicht versuchten weg zu machen. Der Rauch der Zigarette strömt aus meiner Lunge und bei der nächsten Möglichkeit entsorge ich diese auch richtig, bevor ich weitergehe. Die Hälfte der Strecke ist geschafft, dabei habe ich nicht mal die Hälfte der Gedanken beendet, die noch immer in mir kreisen. Wäre Mama hier, würde sie mir sagen, dass er eben so ist. Dass das seine Art ist. Sie wäre für mich da. Aber sie ist nicht mehr da. Sie ist seit vier Jahren nicht mehr hier. Seit vier Jahren zieht Chris mich auf. Seit vier Jahren muss ich immer zu ihm, wenn etwas ist. Dabei hat er sich auf andere Dinge konzentriert. Arbeit. Halle. Bühnen. Planen. Eltern. Seine Mutter. Onkel Andreas. Alles. Außer ich, aber eigentlich sollte es mir auch passen. Sobald ich das Abi habe, bin ich hier sowieso weg.

Vom Feldweg komme ich wieder auf richtige Straßen und weiß, dass ich gleich ankommen werde. An mir vorbei fährt einer der Busse, der die anderen Schüler zur Schule bringt. Zumindest muss ich dann nicht mit denen ins Gebäude und es ist auf dem Hof etwas ruhiger. Neben den Bushaltestellen, die leer sind, als ich ankomme, sind auch die Parkplätze und was ein Wunder, Bolin ist bereits da. Vermutlich wird er schon beim Raum für Mathe sein. Der Montag beginnt mit einer Doppelstunde Mathe Leistungskurs...ich könnte mir kaum was Besseres vorstellen. Im Gebäude muss ich die Kopfhörer abnehmen und laufe die Gänge weiter runter. Im richtigen Trakt dann die Treppe rauf und zum Raum. Und wie erwartet, auf seinem Platzt sitzt auch bereits Bolin.

Meine Tasche stelle ich unter den Tisch und ziehe dadurch gleich Bolins Aufmerksamkeit zu mir hin. Zuerst scheint es so, dass er etwas sagen will, aber als er meine Laune mitbekommt, unterlässt er das. Erstmal. Meine Jacke hängt über meinem Stuhl und dann kann ich mich auch endlich setzen.
Cassy: Frag nicht."
Bolin: Wenn du so anfängst, dann liegt es sowieso an deinem Vater. Oder an den nervigen kleinen Kindern, die dir draußen über den Weg gelaufen sein könnten. Hätte eines von denen heute fast angefahren, weil es einfach über die Straße gelaufen ist."

Ich muss leicht lachen. Nicht, weil er heute morgen fast ein Kind angefahren hätte, das wäre etwas sehr makaber, aber weil er gleich wusste, wie er mich etwas aufmuntern kann.
Bolin: Was hat er denn getan?"
Er. Ist. Einfach. Da. Dort liegt das Problem. Dass er mein Vater ist. Dass ich seine Tochter sein muss. Dass ich zu seiner Familie gehöre. Dass ich noch nicht von ihm los komme.
Bolin: Du weißt, dass er sein bestes versucht, Cassy."
Cassy: Du musst nicht immer auf der Seite von ihm stehen."
Bolin: Und du nicht immer auf der Seite deiner Mutter."
Cassy: Sie hatte sich zumindest für mich interessiert."

Meine Mama hatte mir immer gesagt, dass Chris mich nie haben wollte. Das Gefühl habe ich auch immer von ihm bekommen. Mama hatte mir immer wieder gezeigt, dass er sich um sich kümmert. Er war selten da, hat kaum zu uns gesprochen und er weiß auch heute kaum etwas über mich. Dann muss er am Morgen, wo er ausnahmsweise mal da ist, nicht so tun, als würde er sich dafür interessieren. Wie gesagt, dafür kommt er ein paar Jahre zu spät. Meine Mama war immer an meiner Seite, wollte nur das Beste. Sie war für mich da.

Bolin will etwas sagen, aber verbietet es sich im selben Moment selbst. Ich komme auch nicht mehr dazu, dass ich nachfragen könnte, da im gleichen Moment unsere Lehrerin in den Raum kommt. Frau Sinn, unsere Mathelehrerin und immer wieder ruft diese Stunde und diese Lehrerin schlechte Erinnerungen hervor. Nicht sie als Mensch...aber einfach der Moment...sie...wir beide hier...in Mathe...aber es ist bereits passiert und passiert nicht nochmal. Aber die quälenden Gedanken bleiben vermutlich für immer.
Frau Sinn: Guten Morgen."
Die Klasse antwortet nur kurz. Keiner will gerade zu dieser Zeit hier sein. Felix kommt auch wie immer fünf Minuten zu spät, aber irgendwie hat sich da bereits jeder Lehrer dran gewöhnt und hinterfragt es daher auch nicht mehr.
Frau Sinn: Ich gebe Ihnen heute Ihre Vorabiklausur zurück. Schauen Sie sich die genau an und in der Stunde werden wir einige der Aufgaben nochmal an der Tafel rechnen. Im nächsten Semester schreiben wir nur noch eine Klausur und dann kommt das Abitur."
Daran hätte sie uns nicht erinnern müssen. Immer wieder bekomme ich in Physik oder Musik schon mit, dass mich die anderen fragen, ob ich mit dem Lernen schon angefangen habe. Es ist erst November, Leute!

Mein Platz ist am Fenster und neben mir sitzt einzig Bolin. Trotzdem greife ich, als Frau Sinn mir meine Klausur zurückgibt, sogleich danach und lasse sie erstmal umgedreht. Bolin sieht das, hat das aber bereits schon etliche Male gesehen und denkt daher nicht weiter darüber nach, da er im nächsten Moment selbst seine Arbeit bekommt. Das ist der Moment, wo ich die Klausur umdrehe und das erste Mal darauf schaue. Ich habe 13 Punkte geschrieben, was eine 1- ist. War zu erwarten, immerhin habe ich Bolin als Lernpartner. Auch wenn ich danach versuche mich auf die Aufgaben zu konzentrieren und durchzuschauen, ob ich Fragen habe, immer wieder schweift mein Blick auf den Kopf der Seite ab, bis ich irgendwann einfach nach einem schwarzen Stift greife. Auf dem Strich habe ich meine Namen, Cassy, geschrieben und Frau Sinn darunter...immer wieder gehe ich mit dem Stift darüber, bis der Name unkenntlich geworden ist.
Bolin: Hey..."
Er greift nach meinem Arm und zieht den von dort weg, damit ich damit aufhören würde. Bisher habe ich den Namen immer nur angestarrt, aber dieses Mal musste ich es tun.
Bolin: Das ist ein offizielles Dokument."
Und mir ist es egal.

Dann sitze ich dort, vor meiner Klausur, die nun einen fetten, schwarzen Balken drauf hat und vielleicht macht mich das etwas glücklich. Ich habe mir das ganze nicht ausgesucht, ich bin hier irgendwie gelandet. Damit meine ich nicht in dieser Klasse, ich bin irgendwie in diesem verdammten Leben gelandet, was ich mir freiwillig niemals ausgesucht hätte. Niemand würde sich das einfach so aussuchen, außer er will niemals glücklich werden...

Nameless to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt