Kapitel 48

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Sicht von Chris...

Ein weiteres Mal starre ich auf den Bildschirm meines Macs und hoffe innerlich, dass ich alle Pläne für die nun anstehende Tour richtig abgespeichert habe. Was jetzt nicht da oder richtig ist, ist für die nächsten Tag auch komplett verloren. Da wir diese Show aber mittlerweile seit fast drei Jahren spielen, sollte alles laufen. Nur die neuen Illusionen, die wir ausprobieren, sollten den Plan dabei haben.

Und während ich dort vor dem Bildschirm hänge, höre ich, dass Christina von oben die Treppe runtergelaufen kommt. Könnte sein, dass sie ihre Tasche bereits unten im Flur abstellen will, oder dass sie mich noch etwas fragen möchte. In den Jahren war sie noch kein einziges Mal mit. Ich weiß nicht, wer nervöser sein könnte. Sie, die nicht weiß, was auf sie zukommt oder ich, weil ich meinen Bruder rein gar nichts gesagt habe. Bis zum zweiten Januar sind wir unterwegs, erst mitten in der Nacht werden wir wieder hier sein. Auch habe ich Christina noch nicht gesagt, wo es überhaupt hin geht. Kann daran liegen, dass ich selbst den Plan nicht im Kopf habe. Alles wird schon irgendwie gut laufen. Sie ist kein kleines Kind mehr, kann auf sich selbst aufpassen und Andreas wird auch nichts dagegen haben. Es werde ein paar gute Tage werden, sicherlich.

Ich fahre den Mac gerade dann runter, als meine Tochter im Rahmen zum Wohnzimmer stehenbleibt. Daher schaue ich auch zu ihr hin und wollte gleich fragen, ob etwas ist. Aber als ich sie ansehe, merke ich auch, dass sie unter ihren Arm ein altes Buch mit sich trägt.
Chris: Was hast du da, Christina?"
Zuerst möchte sie antworten, aber dann fängt sie sanft an zu lachen, umgreift das Buch etwas fester und geht danach die Schritte auf mich zu, damit sie sich zu mir setzen kann. Danach legt sie es auf den Tisch und ich erkenne selbst schon, was das ist.
Christina: Ich habe die Schlittschuhe eben wieder rauf gebracht und habe dabei in der alten Truhe das Buch gefunden. Irgendwie..."
Die ersten Seiten überblättert sie. Kann daran liegen, dass man sie dort als Baby sieht und das hatte sie im Buch ihrer Großeltern bereits gesehen. In diesen Buch, was meine Eltern angelegt hatten, sind viele Bilder von uns als Familie drin. In den Wohnungen, im Garten, am See, in der Stadt, bei verschiedenen Augenblicken eben.
Christina: Das hier sieht mehr nach einer heilen Familie aus und nicht nach dem, was es für mich in letzter Zeit zu sein scheint."
Chris: Weil es nicht immer so war. Nicht jeder Tag war gleich, es gab solche und solche."

Auf einigen Seiten wurde unser erster und fast einziger Urlaub festgehalten. Wir waren immer in Deutschland unterwegs und wir waren auch erst einmal weg, als ich anfangen konnte zu arbeiten. Da war Christina bereits sechs, nach den Ferien wurde sie eingeschult und dort waren wir irgendwo an der Nordsee unterwegs.
Chris: Auch wenn wir eine kaputte Familie waren, es schien nach außen selten so. An dem Tag warst du das erste Mal am Meer. Es war gerade Ebbe, du bist auf eine der Quallen getreten uns hast dich so erschreckt. Du dachtest, dass das irgendein seltsames Wesen ist, wolltest weglaufen und bist dabei ausgerutscht und komplett in den Dreck gefallen."
Zuerst dachte ich, es wäre ihr unangenehm, aber sie muss genauso wie ich anfangen zu lachen.
Chris: Man hatte Sarah und mir so angesehen, dass wir selbst eigentlich noch Kinder sind, auch wenn wir beide Anfang zwanzig waren. Aber als wir dich und das ganze beobachtet hatten, mussten wir so anfangen zu lachen. Wir mussten selbst dann merken, dass das unser Kind ist und dass wir dir eventuell helfen sollten. Wir haben auch noch gelernt."
Christina schaut zu mir hin, während ich etwas verträumt auf die alten Aufnahmen schaue.
Chris: Es war vieles nicht so, wie es hätte sein sollen, aber dennoch hat man auch gesehen, dass auch Sarah es ein wenig genossen hat, Mutter zu sein. Wir hatten auch gute Zeiten, an die ich gerne zurückdenke und sowas gehört dazu."

Christina lässt das Buch dann zufallen, als sich das Haustelefon meldet. Ich habe mich in den letzten Tagen bei Mama gar nicht gemeldet. Könnte jetzt die Retoure dafür sein.
Chris: Hast du alles bereits gepackt? Wir sollten bald los fahren, damit wir nicht zu spät kommen. Andreas würde das nicht so lustig finden."
Aber scheinbar findet es meine Tochter recht amüsant. Die Pünktlichkeit, die sie an sich hat, hat sie dabei auch definitiv nicht von mir. Mein Weg führt mich in den Flur, da dort das Telefon liegt und damit ich den Anruf annehmen kann. Als ich auf die Anzeige schaue, sehe ich die Nummer, kann sie aber gar nicht einordnen. Trotzdem nehme ich den Anruf an.
Chris: Christian Reinelt?"
Ich würde gerne wieder auflegen, aber weiß, dass das Weglaufen und Versteckspiel jetzt spätestens vorbei ist.
Michelle: Hallo Christian, Michelle hier."
Meine Schwiegereltern, die ich seit der Beerdigung meiner Frau nicht mehr gesehen habe. Die ich bewusst seitdem nicht mehr gesehen habe, weil sie mich nicht sehen wollten. Ich habe ihnen ihre Tochter, ihr einziges Kind, genommen.
Chris: Woher habt ihr unsere Telefonnummer?"
Michelle: Christina hatte sie uns gegeben, als sie bei uns gewesen ist. In den letzten Tagen habe ich es nicht geschafft, aber wir wollten euch noch frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen. Wir wissen, dass du wohl bald wieder unterwegs sein wirst und daher nicht erreichbar."

Ich sollte nicht unterwegs sein. Mein Leben sollte nicht einfach so weiterlaufen, als wäre der Unfall damals nicht gewesen. Mein Leben hätte auch stehenbleiben müssen.
Michelle: Christian."
Chris: Ich...das damals...das Ding mit Sarah...ich hätte...der Streit."
Michelle: Es ist nicht deine schuld gewesen, Christian."
Es war nicht meine schuld? Christina sitzt schweigend im Wohnzimmer, kann sich vielleicht denken, wer dort auf der anderen Seite ist, aber gerade schweigt sie einzig.
Michelle: Du hast nichts mit ihren Tod zu tun. Sie ist betrunken Auto gefahren. Sie war am Handy. Sie hat das alles in Kauf genommen. Du trägst keine Schuld. Noch nie."
Schritt für Schritt gehe ich aus dem Flur ins Wohnzimmer hinein. Dabei ziehen aber einzig immer wieder die gesprochene Worte von Michelle durch meinen Kopf.
Michelle: Wir wissen, dass sie dich in all den Jahren sehr schlecht behandelt hat, Christian. Wir haben das alles immer wieder mitbekommen."
Chris: Rechtfertigt aber nicht das, was mit ihr passiert ist."
Michelle: Das meine ich auch gar nicht."

Als meine Tochter von ihrem Platz aufsteht, drehe ich mich bewusst von ihr weg. Ich kann nicht von beiden Seiten gebrauchen, dass auf mir eingeredet wird. Erst recht nicht von den beiden Seiten, denen ich etwas...
Christina: Du kannst nicht dafür."
Michelle: Du hast dich immer für Christina eingesetzt, weil Sarah es nicht getan hätte. Du hast trotz allem immer weiter gemacht, Christian. Du kannst nicht für den Fehler, den Sarah gemacht hat. Du hast aber so viel für deine Tochter getan, sie ist eine wunderbare junge Frau geworden. Wir sind stolz auf dich."
Auch wenn ich meinen starren Blick nicht vom Fleck bewegen kann, ich spüre die Arme von Christina um mich, aber eine Reaktion gebe ich nicht. Vorerst nicht.
Christina: Es war ihr Fehler...du warst aber immer da, auch wenn ich dich nicht wollte...ich bin stolz und froh, dich als Papa zu haben."

Ich muss meinen Kopf hängen lassen, sortiere meine Gedanken, bis ich schwach lächelnd zu meinem Kind schauen kann, was noch immer bei mir steht. Und auch wenn sie mich zuerst nicht anschaut, sie macht es, als ich eine Hand hinter ihren Kopf lege.
Chris: Es fällt mir schwer, das hinter mir zu lassen."
Michelle: Sarah hat nie gesehen, dass du auch für sie immer nur das Beste wolltest. Du hast so viel für sie getan...aber du weißt, wie sie war. Es war niemals genug."
Chris: Ja, für sie war nie irgendwas genug...ich war niemals genug."
Christina: Du warst immer schon genug."
Michelle: Für deine Kleine warst du es bestimmt schon immer. Du siehst doch, was aus ihr geworden ist und das ist allein deine Arbeit. Ich hätte mir immer gewünscht, sie hätte mehr in dir gesehen, denn ich war immer froh, dass du an ihrer Seite warst. Du warst immer schon ein guter Schwiegersohn."
Chris: Trotz..."
Michelle: Du trägst keinerlei Schuld an ihrem Unfall. Das schlimmste in den Jahren war, dass wir den Kontakt zu euch verloren haben, Christian. Wir sind eine Familie."

Wir sind eine Familie. Zwar klein und kaputt, aber auch gut. Und wenn ich meine Kleine ansehe, die mir das in den letzten Tagen immer wieder zeigen wollte, obwohl ich alles getan habe, es niemals wieder zu sehen, will ich auch alles glauben, was ich hören musste. Sie wissen es zwar, aber würden dich niemals verurteilen. Es ist passiert, du trägst aber keine Schuld daran. Du warst immer schon mehr als genug.

Für einen Moment drücke ich Christina, bevor ich ihr mit einer kurzen Kopfbewegung andeute, dass sie sich fertig machen soll, damit wir gleich losfahren können. Dafür verlässt sie mich und lässt mich mit Michelle allein zurück.
Chris: Danke, für vieles, was ihr immer schon getan habt. Und Entschuldigung, dass ich den Kontakt einfach abgebrochen habe."
Michelle: Wir können dich verstehen, Christian. Das war für keinen ein leichte Zeit. Wir alle haben darunter gelitten, aber ihr vermutlich am meisten."
Chris: Wir bleiben jetzt in Kontakt. Vielleicht können wir uns mal sehen, wenn wir in der Nähe unterwegs sind."
Michelle: Das würde uns beide freuen."
Wir beenden das Gespräch miteinander, da mir die Zeit davonläuft. Danke, dass ihr euch gemeldet habt. Ich muss langsam mit der Vergangenheit abschließen...

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