Kapitel 70

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Auch wenn ich morgens meist meine Zeit gebraucht habe, bis ich irgendwie wach geworden bin, Levi hatte es am Ende immer wieder geschafft mich wach zu halten. Oder zumindest auf Trapp hat sie mich gehalten. Somit hatte ich allerdings eine Aufgabe und mein Vater konnte sich auf seine Dinge konzentrieren.

Zwischendurch allerdings musste ich mich immer wieder auch einfach von allem absetzen. Dann sitze ich mit meinen Büchern und meinem iPad in der Kantine, versuche mir den Stoff für meine Prüfungen einzuprägen und wünsche mir dann doch wieder etwas, dass ich zu Hause mit meinem Kater auf dem Sofa in Ruhe sitzen und dort allein lernen könnte...oder mit Bolin. Einfach in einer anderen Umgebung. Das wäre gerade gut. Heute sitze ich aber in keiner Ahnung was für einer Stadt und sitze vor den Fachbegriffen der Klassik und deren Kompositionsweise für Musik und eben gerade habe ich die Datei mit den Vektoren für Mathe geschlossen. Wahrscheinlich ist meine Lernart dabei auch so unfassbar dumm, dass ich zu Hause nochmal alles anschauen muss. Neben mir steht eine kleine Schale mit Nüssen, weil ich gestresst bin. Im Normalfall wäre ich jetzt raus gegangen, hätte frische Luft geschnappt und eine geraucht. Aber Christina zieht das bereits seit dem 01. Januar durch und die Prüfungsphase wird mir das jetzt nicht ruinieren.

Mein Stift fürs iPad verabschiedet sich und muss erstmal geladen werden. Passt mir gerade gar nicht, aber okay! Der Stuhl knatscht ein wenig als ich mir darein fallenlasse, meine Augen für einen Moment entspanne und an die Decke starre. Und Englisch und Physik fehlen auch noch immer zu großen Teilen.
Sina: Hey..."
Bitte nicht...ich schaue auf und an meinen Blick merkt sie gleich, dass ich gar keine Lust auf ihre Anwesenheit habe. Das Lächeln von ihr wird immer weniger und wo sie zuerst noch recht locker und fröhlich vor mir stand, wirkt sie jetzt verkrampft und eingeschüchtert. Christina...du wollte immer, dass irgendjemand mal für dich da ist, dich vielleicht einzig akzeptiert...dann mach jetzt nicht das gleiche wie die anderen immer bei dir.
Christina: Sorry, ich bin gerade echt mit dem Kopf komplett wo anders und einfach nur noch gestresst."
Sina: Prüfungen?"
Christina: Ich schreibe in wenigen Tagen mein Abitur, bin nach dem Block hier wieder zu Hause und hoffe, dass ich das hier alles bis dahin verstehe."
Sina nickt nur leicht, vermutlich weil ihr meine Art nicht sonderlich geheuer ist. Mein Stift läd immer noch, mein Kopf hat gerade Aufnahmestopp und sie steht noch immer vor mir.
Sina: Ich...habe jetzt Pause, bevor ich mich später für die Show fertig machen muss. Darf ich mich einfach dazu setzen und was zum Abend essen? Eigentlich bin ich hier immer allein."
Christina: Klar."

Und eigentlich habe ich keine Lust darauf, will aber auch nicht das letzte Arschloch sein. Wie lange sollte sie aber brauchen? Die Show ist in einer Stunde, mein Vater wird vermutlich auch gerade fertig gemacht, also wird sie auch nicht so lange mit hier sein. Das wirst du auch überstehen Christina.

Sich und ihren Teller platziert sie gegenüber von mir. Was meinte sie überhaupt, dass sie sich noch fertig machen muss? Also ja, sie trägt noch einen alten Pulli und eine ausgeblichene Hose, aber dafür ist ihr blond-braunes Haar – keine Ahnung, vermutlich Strähnen blondiert – bereits gewellt und sie ist dezent geschminkt.
Christina: Du musst dich für die Show fertig machen?"
Sina muss keinen Moment überlegen, was ich meinen könnte, da sie es sogleich begreift.
Sina: Ja, also...ich kann mich immer so verdammt schlecht ausdrücken. Ich weiß, ich sehe schon bereit aus, aber ich muss mich noch umziehen und wie du dir denken kannst, ist das bei der Illusion etwas schwerer."
Quick Change Illusion, hätte ich mir denken können. Ich weiß, wie keine Nummer funktioniert, aber dabei kann man es sich denken.

Mein iPad geht aus, läd den Stift weiter und wir beide sitzen uns schweigend gegenüber. Für einen Moment schaue ich auf die Uhrzeit auf meinem Handy, tippe dafür kurz auf den Button, sodass es aufleuchtet und bekomme Augenblicke später das kurze Lachen von Sina mit.
Sina: Süßes Bild."
Ich muss schmunzeln. Nicht wegen der Aussagen – vielleicht ein bissen deswegen – aber weil sie danach rot wird und ihre Hände vor ihr Gesicht schlägt.
Sina: Warum bin ich so oft so peinlich!"
Sie atmet durch, ich verkneife mir das Lachen, bis Sina es endlich wieder schafft mich anzusehen und sich versucht zu erklären. Genauso schlecht, wie sie es vorhin angedeutet hatte.
Sina: Ich wollte jetzt nicht das Bild von dir und deinen Vater als Süß bezeichnen. Soll nicht heißen, dass ich es nicht leiden kann, oder euch beide. Ich habe mich einfach nur falsch verhalten. Also ich wollte was dazu sagen, nur nicht das. Aber..."
Sie ist lustig, wenn sie sich über sich selbst aufreget.
Sina: Ich kann mich einfach nicht ausdrücken...schönes Bild!"
Christina: Danke. Das ist aus dem letzten Urlaub. Wir sind erst wiedergekommen an den Tag, wo es auf Tour ging. Der erste richtige Urlaub seit einer langen Zeit."

Vielleicht ist sie nicht so schrecklich, wie ich gedacht hatte. Während sie ihr Essen zu sich nimmt, was ich auch dringend noch muss, da ich sonst meinen Vater im Nacken habe, nehme ich mir immer wieder eine Nuss aus der Schale.
Christina: Warum hast du hier angefangen?"
Ihr Lächeln ist gelogen. Du erinnerst mich an mich. Wenn mich jemand etwas über Mama gefragt hat, habe ich oft genauso reagiert.
Sina: Neuanfang? Mein Ex meinte es nicht so gut mit mir."
Christina: War er gewalttätig? Hat dich betrogen?"
Sina: Es lag ihm nicht sonderlich viel an der Beziehung. Immer wieder das Gefühl zu haben, man sei ein Fehler und nicht wirklich geliebt...dann will man irgendwann davon loskommen. Aber das ist schon über ein Jahr her, ich habe jetzt noch die Stadt hinter mir gelassen."
Christina: Und warum das hier?"
Sina: Das frage ich mich auch immer wieder. Ich war bei einer Agentur noch gemeldet, die Vorgängerin hier war auch da und so bin ich darauf aufmerksam geworden. Und irgendwie...bin ich hier gelandet."

Einfach so hier gelandet oder mit Vorwand genau hier gelandet? Nicht jeder ist wie Karina. Die ganze Geschichte ist auch wieder Monate her und dennoch hängt es mir noch so nach und immer wieder muss ich noch daran denken. Wie erbärmlich kann man eigentlich sein?

Nebenbei stochert Sina in ihrem Essen, weil sie zu mir hinschaut. Mittlerweile ignoriere ich viele Blick von vielen Menschen einfach immer wieder, sodass es mir auch nicht so schnell auffällt. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen und weiß, dass ich da mehr als mies drin bin und immer schon war.
Sina: Ich habe die Geschichte gehört."
Christina: Wer hat sie dir denn bitte erzählt?"
Auch wenn ich es nicht verstehe, Sina muss ein wenige lachen und schaut danach etwas besorgt zur Seite. Als hätte sie das nicht sagen sollen.
Sina: Als ich damals von Chris eingewiesen wurde in die Arbeit, hat er auch eine gute halbe Stunde mir einen Vortrag gehalten, warum die letzte den Job verloren hat und dass mir das eine Leere sein soll. Dass ich nicht auf die Idee kommen muss, dir sowas anzutun oder mir irgendwie falsche Hoffnung zu machen."
Dieses Mal bin ich diejenige, die ihren Kopf in die Hände legt. Dabei versuche ich meinen Schrei zu unterdrücken, bevor ich aufschaue, aber den Kopf einfach in den Nacken fallen lasse, bevor ich durchatme.
Christina: Gott, mein Vater kann ja so peinlich sein!"
Sina lacht und ich versuche Worte zu finden, um mich dafür zu entschuldigen, was er ihr gesagt hatte an dem Tag.
Sina: So sind Väter eben. Sie wollen das Beste für ihre Kinder. Hat mir nicht sehr viel Mut gegeben, erst recht, weil du zu Beginn auch sehr...sparsam mir gegenüber warst."

Toll gemacht Christina! Super! Warum trete ich eigentlich immer wieder von der einen in die andere Scheiße? Ich mache alles doch immer einfach nur schlimmer.
Christina: Es tut mir wirklich leid. Würde ich sagen, dass ich das nicht wollte, wäre es gelogen, aber ich hoffe, du verstehst mich irgendwie."
Sina: Es ist ja nie zu spät für einen zweiten ersten Eindruck."
Du bist seltsam, aber auf eine sehr sympathische Weise. Ihre Sachen sammelt sie zusammen, da sie mittlerweile fertig ist und in ihre Kabine gehen sollte.
Sina: Ich störe nicht weiter. Du hast scheinbar noch viel vor dir."
Christina: Dabei habe ich kaum mehr Kapazitäten dafür übrig. Aber ansonsten gehe ich immer einzig bei Levi mit und komme gar nicht raus."
Jetzt hätte mein Stift gerne noch Zeit gebrauchen könne, bis er vollkommen geladen ist, aber nein, ich kann gleich weiterarbeiten.
Sina: Hey."
Sehr vorsichtig legt sie ihre Hand auf meine Schulter, als sie hinter mir zur Rückgabe gehen will, bekommt es so aber nochmal hin, dass ich zu ihr schaue.
Sina: Samstag sind wir in Bremen und das ist meine Heimat. Wenn du willst, Zeit und den Kopf dafür hast, zeigt ich dir die Stadt etwas, okay?"
Christina: Ich überlege es mir, danke Sina."

Ein letztes Lächeln, bevor sie mich mit meinen Satzanalyse der Symphony Nummer fünf von Beethoven allein lässt. Schicksalssymphonie...meines würde ich gerne wissen...

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