Kapitel 7

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Meine Pizza mit Schinken und Pilzen - wer Ananas auf die packt, gehört eingesperrt- liegt vor mir und daneben steht meine Flasche Wasser. Stitch liegt auf seiner Decke. Die gehörte Mal mir, aber er hat sie einfach zu seinem Eigentum gemacht und ich habe da keine Entscheidungsmacht mehr drüber.

Während Stitch immer wieder zu mir schaut, gehe ich auf meinem Fernsehen die Filme auf Netflix durch. Einige davon habe ich bereits gesehen, da ich solche Abende oft für mich allein habe. Die meiste Zeit des Jahres bist du allein am Abend in deinem Zimmer, Cassy. Am Ende schaue ich nach, was im November neu bei Netflix hinzugekommen ist und werde am Ende zum Glück auch fündig. Ich starte den Film »R.E.D. – Älter. Härter. Besser.« und lasse die Fernbedienung dann neben mir fallen. Der Film läuft an und ich kann endlich anfangen zu essen. Das ist auch der Moment, wo Stitch das erste Mal zu mir hinschaut und mich mit diesem bettelnden Blick straft.
Cassy: Du darfst nichts davon haben, Stitch. Außerdem hast du vor dreißig Minuten von mir was zum Fressen bekommen."
Es ist ihm aber egal. Eine seiner Pfoten legt er auf mein Bein, nachdem er aufgestanden ist und versucht danach an mein Stück Pizza zu kommen.
Cassy: Komm, ich gebe dir etwas von deinen Leckerlies und dann lässt du mich in Ruhe."
Während ich in die Schublade unter meinem Bett greife, muss ich schauen, dass er sich nicht an meinem Essen bedient. Nachdem er dann aber auch noch ein paar Stücke vor sich liegen hat, scheinen wir beide zufrieden zu sein.

Zwischendrin stoppe ich den Film für einen Moment, da ich den Karton dringend runterbringe muss. Ich will nicht, dass mein Zimmer am Ende den kompletten Geruch davon annimmt. Stitch bewegt sich kein Stück von seiner Decke runter, während ich aus meinem Zimmer und die Treppe runterlaufe. Im Flur liegt noch meine Tasche, die ich gleich mitnehmen sollte, aber als ich in die Küche komme, stehen auf dem Tisch die Blumen in der Vase. Darum habe ich mich gekümmert, bevor ich duschen gegangen bin. Und dann stehe ich dort für einen etwas zu langen Moment rum.

Meine Hand geht vorsichtig über die Blüten, die gerade noch geschlossen sind. Die Dame im Laden meinte immer, dass es die falschen Blumen für die Jahreszeit sind, aber mir war das egal. Es waren immer schon Tulpen und es werden für immer Tulpen bleiben. Meinen Kopf lasse ich für einen Moment hängen, atme durch, bevor ich wieder halbwegs gefasst aufschauen und meine Hand von dort wegnehmen kann. Es wird alles leichter...irgendwann...bestimmt.

Dass ich das Miauen von Stitch wahrnehme, reißt mich aus den Gedanken und bringt mich dazu, dass ich mich wieder zur Treppe umdrehe.
Cassy: Ich komme ja schon wieder, Stitch!"
Aus dem Flur nehme ich nebenbei meine Tasche mit und laufe hoch, wobei ich meinen Kater gleich am Treppenende sitzen sehe. Ich lache kurz und gehe an ihm vorbei in das hintere Zimmer im Flur. Die gesamte obere Etage gehört mir, wobei hier neben dem Bad noch drei weitere Zimmer sind. Mein Schlafzimmer mit Balkon. Mein Arbeitszimmer, wo mein Bücherregal, mein Computer und ein Schreibtisch stehen. Und das Zimmer, wo die Sachen für meine Hobby stehen. Also ein Klavier und eine Kleiderstange mit den Sachen vom Sport. Dort stelle ich nur die Tasche ab, da ich die Wäsche morgen machen würde. Um fast zehn am Abend muss ich damit nicht anfangen. Stitch sitzt in der Tür und wartet darauf, dass ich wieder zu ihm zurückkomme.
Cassy: Komm, unser Film geht noch ein bisschen."

Dann saßen Stitch und ich den Abend noch weiter vor dem Fernseher und haben den Film zu Ende gesehen. Danach lief nur noch eine Crime Doku im Fernsehen, die ich fast immer vor dem Einschlafen schaue. Stitch schlief sehr schnell an meinem Bettende ein und auch ich war erschöpft vom Tag, sodass ich etwa einen Fall noch aktiv mitbekommen habe, bevor ich den Fernseher ausschalten musste und mich schlafen legte.

Auch wenn ich am Morgen gegen neun wach geworden bin, ich lag lange im Bett und habe mich immer wieder unter meiner Decke versteckt. Stitch hat versucht mich aufzumuntern, aber an solchen Tagen bringt das einfach nichts. Da will ich am liebsten allein sein oder alles vergessen, was gewesen ist. Die Last der Gedanken schnürt mir die Luft ab, immer wieder verkrampfen meine Hände und Beine und meinen Kopf drücke ich ins Kissen. Sie kennen dich nicht, müssen es nicht verstehen. Du bist genug, wirst geliebt und wirst gesehen. Du kannst nichts dafür. Die Decke lege ich von mir runter und sogleich springt Stitch auf meine Beine, damit ich ihn streicheln kann.
Cassy: Immerhin bist du immer für mich da, kleiner."

An Frühstück war heute nicht zu denken. Mir ist der Appetit vergangen, sobald ich aufgewacht bin. Nicht mal einen Kaffee habe ich runter bekommen und die erste Zigarette am Tag war so unfassbar widerlich, dass ich hätte aufhören können. Auf der einen Seite wollte ich mich ordentlich anziehen, auf der anderen fehlte mir die Kraft dazu. Dem Wetter entsprechend habe ich mich gekleidet, Stitch etwas in seine Schüssel gegeben und im Anschluss die Blumen genommen, damit ich danach das Haus verlassen konnte.

Die Musik auf meinen Kopfhörern soll mich davon abhalten, wieder in den Gedanken zu versinken, die mich seit genau vier Jahren immer wieder quälen. Immer wieder das gleiche Szenario. Immer wieder die gleichen verdammten Fragen. Immer wieder kommen die gleichen Sachen auf, die ich vergessen will. Die ich zu verdrängen versuche. Die ich als kein Teil von mir sehen möchte. Ich wollte ein normales Leben und habe das hier bekommen.

Die stählerne Tür öffnet sich mit einem starken quietschen, was mich immer schon gestört hat. Einige Leute sind hier, wobei kaum einer sich für den anderen interessiert. Nur kurze Gespräche werden geführt, aber ich gehe an allem und jeden vorbei. Den Weg würde ich blind erkennen und ablaufen können, da es immer wieder der gleiche ist. Der Weg ist trocken, immerhin hatte es in den letzten Tagen nicht geregnet. Ansonsten ist das hier immer voller Schlamm und das Vorrankommen ist eine Qual. Nein, an diesem Tag komme ich an, lege meine Tasche neben mir ab, damit ich in Ruhe den Strauß rausholen kann. Vorsichtig entferne ich das Papier und das Band, damit ich diese in die Halterung stellen kann. Danach lege ich sie nur etwas ordentlicher hin, bevor ich mich auf die Steinplatte knie, weil mich die Kraft wieder verlassen hat. Ich muss wieder anfangen zu weinen. So wie den gesamten Morgen bereits schon. Danach schaue ich auf und sehe wieder die gleiche Schrift, den gleichen Namen, die gleichen Daten, wie immer schon.

Sarah Reinelt, geborene Fischer, geboren am 14. Juli 1981, gestorben am 15. November 2011...

Nameless to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt