Kapitel 30

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Diese fetter Federbettdecke hätte mich in der Nacht fast komplett erdrückt, aber anders wäre ich vermutlich wieder halb erfroren. Notiz an mich selbst, in der Nacht kann man hier das Fenster nicht offen lassen. Der erste Tag, wo ich richtig und komplett hier bin. Das alles fühlt sich noch so falsch an, dass ich wirklich hier bin. Aber einen anderen Weg habe ich einfach nicht gesehen.

Bevor ich in die Küche gehen würde, setze ich meine Kontaktlinsen noch rein und schaue danach noch einmal auf mein Handy. Die einzigen Nachrichten, die ich bekommen habe, sind allesamt von Chris. Einige Nachrichten auf WhatsApp und ein paar wenige Anrufe. Ich weiß, dass du vermutlich Angst hast, aber das muss gerade sein, Chris. Es tut mir leid. Ohne weiter zu reagieren, schalte ich es aus, lasse es in der Hand und verlasse im Anschluss das Zimmer, damit ich in die Küche gehen kann. Es ist fast elf Uhr, nur meine Oma steht dort und vermutlich kümmert sie sich ums Mittagessen. Mir wäre es lieb, könnte ich erst mal irgendwas frühstücken. Im Radio läuft eine Sendung, wobei ich kaum etwas verstehe, da sie im Dialekt gesprochen wird. Im Kalender stehen einige Daten notiert. Arzttermine, eine Oper, wo sie hingehen wollen und noch ein Treffen mit Freunden. Irgendwie dachte ich immer, dass ihr Leben niemals wieder normal werden kann, nachdem sie ihre Tochter verloren haben. Vielleicht hänge ich aber nur so stark in der Vergangenheit fest.

Obwohl ich eine Zeit schon still und regungslos in der Küche stand, erst jetzt bekommt Michelle mit, dass ich hier stehe.
Michelle: Ich habe gar nicht bemerkt, dass du hergekommen bist, Christina."
Cassy: Entschuldige, ich hätte ja auch was sagen können. Ich war...einfach nur etwas in Gedanken versunken."
Michelle: Kann ich verstehen. Willst du ein Brötchen haben?"
Cassy: Das wäre sehr gut, danke."
Das, was ich haben wollte, durfte ich mir selbst aus dem Kühlschrank suchen und mich danach an den Tisch setzen, sodass ich essen und mich zugleich mit Oma weiterhin unterhalten kann.
Michelle: Konntest du schlafen?"
Cassy: Ja, sehr gut. Ich muss mich wohl nur daran gewöhnen, dass es hier etwas kälter ist als bei uns zu Hause in Herford."
Michelle: Ihr wohnt also noch immer dort?"
Für einen Moment löst sie ihre Aufmerksamkeit von Herd und Spüle, damit sie zu mir hinschauen kann. So lange habt ihr nichts mehr von uns gehört?
Cassy: Wir sind damals recht schnell aus der Wohnung in eine andere gezogen. Vor einem Jahr etwa dann aber in ein Haus."

Scheinbar schmerzt es ihr auch, dass sie von all den Sachen nie etwas erfahren hatte. In den ganzen Jahren dachte ich immer, dass sie den Kontakt nicht mehr haben wollten und jetzt finde ich raus, dass es an Chris gelegen hat. Aber warum hat er das getan? Warum hat er uns so von der Familie meiner Mutter ausgeschlossen? Hätte ich das gewusst, wäre ich früher gekommen, aber ich hatte Angst, sie wollen mich gar nicht mehr sehen. Wäre das der Fall gestern gewesen, hätte ich auch nicht gewusst, was ich tun sollte.

Es dauert nicht sehr lange, bis Michelle sich ein Küchentuch nimmt und ihre Hände trocknet, damit sie sich danach einen Kaffee in ihre Tasse einschenken und sich im Anschluss zu mir setzen kann.
Cassy: Ihr wart nicht diejenigen, die den Kontakt zu uns abgebrochen haben?"
Sie schüttelt verträumt mit dem Kopf. Weil ich hier bin, habe ich sie vermutlich doch etwas wieder in vergangene Zeiten gezerrt und in Erinnerungen, die sie verdrängt haben.
Michelle: Es war auch für uns schwer, als Christian uns angerufen hatte, damit er uns sagen konnte, dass Sarah einen Unfall hatte. Wir haben ihn bei einigen Sachen geholfen, aber bereits dort war er sehr seltsam. Hat kaum gesprochen, ist den Gesprächen ausgewichen und wollte selten darüber reden. Als wir umgezogen sind, wollten wir uns melden, aber ab dann war die Telefonnummer nicht mehr vergeben."
Cassy: Als wir die Wohnung gewechselt hatten, bekamen wir eine neue Nummer."
Michelle nickt, trinkt etwas aus ihrer Tasse und ich muss meine Frage, warum er das getan hat, gar nicht aussprechen, da sie mir diese gleich beantwortet.
Michelle: Dein Vater gibt sich bis heute die Schuld, dass er irgendwas mit dem Unfall zu tun hat. Wir wissen, dass das nicht stimmt. Sarah war angetrunken, aufgebracht und am Handy, als sie gegen die Leitplanke gefahren ist. Es war allein ihre Schuld."

Nameless to YouWo Geschichten leben. Entdecke jetzt