Sicht von Christina...
Und dann sitze ich im Wohnzimmer und warte auf meinen Vater, der noch immer im Badezimmer zu sein scheint. Ich habe keine zehn Minuten gebraucht und habe mich wirklich beeilt. Vielleicht, weil ich diese Wette gewinnen wollte, aber auch, damit das hier so schnell vorbei ist, wie es möglich ist.
In den letzten Jahren habe ich immer versucht mich zu finden und habe nicht gemerkt, dass ich irgendwann das war, was Mama in mir sehen wollte. Ich weiß, dass Papa recht hat. Ich kann nicht nur an die schlechten Momente denken, aber ich kann nicht damit abschließen, wenn ich mich selbst immer wieder daran erinnere. Immer, wenn ich mich selbst ansehe, sehe ich nur das Produkt aus Hass. Dass ich nicht wie er sein wollte, weil sie es mir eingetrichtert hat. Damit ich das hinter mir lassen kann, will und muss ich auch mit mir nochmal von vorne anfangen, aber vor allem will ich endlich ich selbst sein. Ich will endlich Christina Reinelt, die Tochter von Christian und Sarah Reinelt sein. Ohne wenn und ohne aber. Einfach nur ich selbst.
Als sich die Tür zum Badezimmer öffnet, schaue ich sogleich wieder auf. Ich habe mich in den Sessel fallenlassen, als ich wieder hier war. Auch wenn ich das Laufen durch den Sport gewöhnt bin, der Stress und die innerliche Unruhe haben es nicht besser gemacht.
Chris: Du warst wirklich fix wieder hier."
Mein erzwungenes Lächeln kennt er nur zu gut. Er weiß, dass es nicht ehrlich ist. Nur er und Bolin können das immer sehen. Sie kennen mich am besten.
Chris: Also..."
Er lehnt sich etwas gegen die Wand neben der Tür zum Badezimmer, geht sich einmal durchs braune Haar – was auch zu mir gehört – und schaut ruhig zu mir.
Chris: Was haben wir beide heute noch vor?"
Ohne etwas sagen zu müssen, schaue ich nur neben mir auf den Tisch, lenke seinen Blick auch gleich dahin und bringe Papa dazu, dass er darauf zugeht. Als er davor steht und es in die Hand nimmt, braucht er nicht lange, um verstehen zu können, was das ist.
Chris: Du hast Haarfarbe besorgt? Christina..."
Christina: Ich will das. Ich habe mich in den ganzen Jahren hinter dieser Fassade versteckt und das war dumm. Ich will das und mein altes Ich hinter mir lassen. Ich will einen Neuanfang und einfach ich selbst sein."Ich dachte mir, dass Papa etwas sagen würde. Dass er denkt, ich mache es wegen ihm oder wegen Mama oder sowas. Aber ich will das. Die ganze Zeit schaue ich ihn an und versuche ihn damit genau das zu sagen. Wir beide wollten einen Neuanfang und damit ich das alte Kapitel schließen kann, muss ich auch das noch hinter mir lassen. Bitte.
Eine lange Zeit hält Papa meinen Blick stand, bevor er anfangen muss leicht zu lachen und sich im Anschluss die Rückseite der Packung anschaut.
Chris: Du weißt, ich habe sowas noch nie getan. Es kann nur schief laufen."
Christina: Wenn ich das hinbekomme, dann auch du. Vielleicht sollten wir Zeitung drunter legen. Handschuhe sind meist dabei. Wegen der langen Haare zwei Packungen"
Chris: Und wir mische ich das?"
Auf dem Tisch haben wir die Zeitungen liegen, die mein Vater hier in den letzten Tagen gelesen hatte. Gerade, als ich diese genommen hatte, fragt er das nach und bringt mich zum Lachen. Ich färbe meine Haare aber auch seit sechs Jahren.
Christina: In der Anleitung wird auch alles für Dummies erklärt. Also solltest du es auch hinbekommen, da bin ich mir sicher."
Seinen gespielt patzigen und beleidigten Blick habe ich leider nicht so drauf, aber ich wünschte, ich könnte es. Ich muss lachen, sodass er auch nicht ernst bleiben kann. Und nach wenigen weiteren Handgriffen sind auch die letzten Vorbereitungen getroffen, sodass wir anfangen können.Fast eine Stunde sitze ich auf den Hocker, während mein Vater die Farbe in meinem Haar aufträgt. Innerlich bin ich noch immer nervös. Seitdem ich 13 bin habe ich mich nicht mehr mit braunen Haaren gesehen. Ich hatte die letzten Jahre immer blaue Haare. Jetzt ändert sich das und ich hoffe, dass es kein Fehler sein wird. Es ist kein Fehler, du bist kein Fehler und das ist die richtige Entscheidung.
Mein Vater legt die Handschuhe zur Seite und gibt mir daher auch das Zeichen, dass er fertig ist. Ich stelle mir dann einen Timer auf 30 Minuten, bleibe aber an Ort und Stelle sitzen und schaue zu, wie Papa alles in den Müll schmeißt.
Chris: Das sollte es gewesen sein."
Er schaut auf seine Hände – Da kommt immer irgendwie Farbe hin, auch wenn man Handschuhe trägt – und kommt danach wieder zu mir.
Christina: Dann heißt es warten."
Da die Haare von mir alle irgendwie zurückliegen, schaut er sehr genau auf die Piercings meines linken Ohres, bevor er etwas schmunzeln muss,
Chris: Ich finde es übrigens sehr niedlich, dass du mir damals nachgemacht hast."
Dabei zeigt er mit einen Finger auf seine beiden silbernen Kugeln am linken Ohr und geht danach Richtung Terrasse vor.
Christina: Du hast mir nachgemacht, würde ich sagen."
Chris: Ich habe die seit 2013, Christina."
Über die Schulter schaut er zu mir zurück. Sehr wohl wissen, dass er recht hat. War eine schlechte Lüge, Christina.
Chris: Sarah hätte dir das damals nicht erlaubt und die hast du erst, seitdem du 18 bist."Auf der Terrasse musste ich mich dann doch auf eine Runde Monopoly einlassen und habe gleich zu Beginn die schlechten Entscheidungen getroffen. Als mein Wecker nach 30 Minuten klingelt, habe ich meinen Vater schon etliche Male Geld geben müssen und weiß jetzt schon, dass ich verlieren werde.
Im Badezimmer nehme ich vorher meine Kontaktlinsen raus und lege sie in die Schachtel. Zuerst will ich diese zur Seite legen, aber ich entscheide mich dagegen. Ich gehe zum Mülleimer und lasse sie darein fallen. Neuanfang, hier und jetzt für immer. Den Duschkopf kann ich zum Glück abnehmen, stelle das Wasser in einer guten Temperatur ein, atme danach einmal durch, bevor ich meinen Kopf darunter halte. Die braune Farbe tropf hinab und läuft mit dem Wasser in den Abfluss. Die Reste aus dem Haar reibe ich mit meiner Hand daraus und warte so lange, bis es wieder klar ist. Ich habe zu lange gebraucht für diesen Schritt und ich will nicht mehr zurück...
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Nameless to You
Fiksi Penggemar»Es heißt immer, dass alles im Leben einen bestimmten Grund hat, aber manchmal würde ich diesen nur zu gerne wissen!« Ein anfangs normaler Herbsttag im November zerstört in diesem Fall eine gesamte Familie und keine erbrachte Mühe scheint das Ausmaß...