Kapitel 1

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•2002•

Etwas irritiert lief ich durch die große Musikhochschule Hamburgs und klapperte sämtliche Räume ab. Irgendwo musste dieser dämliche Kurs doch sein.
"Willst du auch zu diesem Popkurs?", hörte ich eine Männerstimme hinter mir fragen. Ich schreckte um und entdeckte einen jungen Mann, der ungefähr in meinem Alter - so Anfang zwanzig - sein musste. Er trug zerrissene Jeans, ein ziemlich versifftes T-Shirt und eine ranzige Lederjacke. Seine dunklen Haare waren zaus und passten gut zu seinen genauso braunen Augen.
"Ja, ich finde den Raum nicht." - "Na komm, ich weiß, wo es langgeht." Er machte eine Armbewegung, die mir deuten sollte, ihm zu folgen, bevor er sich umdrehte und in einen der vielen Flure verschwand. Ich sah ihm kurz hinterher, ehe ich in den gleichen Flur bog und mir Mühe gab, mit dem Mann Schritt zuhalten. "Hey, kannst du auch etwas langsamer gehen?", keuchte ich irgendwann, woraufhin er verächtlich schnaubte: "Willst du noch später kommen?"
Ich antwortete nicht und lief stumm weiter - es schien schließlich nicht so, als ob er an irgendeinem Gespräch interessiert wäre. Nachdem wir durch das halbe Gebäude gelaufen waren, erreichten wir eine große Tür: "Da wären wir." Er stieß jene auf und schlich in den Raum, in dem gerade eine kurze Rede von dem Leiter des Kurses gehalten wurde: "Ah, Nachzügler. Wer seid ihr denn?", unterbrach er sich selbst.
"Johannes Strate", stellte der Typ sich vor, der mich gerade noch durch die Musikhochschule getriezt hatte. "Jakob Sinn", fügte ich hinzu und hob freundlich grüßend meine Hand, weshalb ich mir im nächsten Moment dämlich vorkam.

Der Leiter des Kurses hakte unsere Namen auf der Liste ab und fuhr mit seiner Einleitung fort. Anschließend begann der Kurs und es machte wirklich Spaß. Ich konnte mich viel mit anderen Musikern austauschen und einiges ausprobieren. Mir entging dabei allerdings nicht, dass Johannes scheinbar Sänger und Gitarrist war. Ich gab mir große Mühe, seinen Gesang zwischen all dem Gemurmel und den vielen Instrumenten im Raum hinauszufiltern.
"Der ist gut", stellte Moritz fest. Ich hatte mich gerade noch mit ihm über Schlagzeuge unterhalten, als Johannes anfing zu singen und ich mich darauf konzentrierte, was Moritz scheinbar nicht entging und es mir einfach gleichtat. "Ja, oder?", bestätigte ich ihn und erhielt ein von einem Schulterzucken begleitetes Nicken.

Am späten Nachmittag war der Popkurs zu Ende. Einige strömten direkt nach draußen, währenddessen andere noch ein wenig im Raum blieben, noch etwas Musik machten oder sich unterhielten. Eine halbe Stunde nach dem offiziellen Ende des Kurses verließ auch ich die Musikhochschule und sog draußen angekommen erst einmal einen großzügigen Zug Luft in meine Lungen - es war ziemlich stickig im Raum gewesen.
Ich blieb auf der obersten Treppenstufe stehen und betrachtete die Umgebung. Etwas rechts konnte man in einiger Entfernung einen kleinen Park entdecken. Direkt vor mir war ein weiteres großes Gebäude, das sicherlich zur Musikhochschule gehörte, und etwas weiter links von mir verlief ein kleiner Fluss - naja, zumindest war er kleiner als die Elbe oder die Alster. Ich kniff die Augen zusammen, als ich eine Person auf der Brücke, die über jenen Fluss verlief, entdecken konnte. Die Person sah aus wie Johannes aus dem Popkurs. Ich schlurfte die Treppenstufen runter und bog nach links auf ihn zu.

"Johannes. Richtig?" Ich lehnte mich neben ihn an das Geländer. Er sah zu mir rüber, nickte und zog an seiner Zigarette: "Und du warst noch gleich...?" - "Jakob", ergänzte ich. Er runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen hoch, während er ein Geräusch von sich gab, das vielleicht ein "Aha" sein sollte, und wieder nach vorne aufs Wasser starrte. Panisch suchte ich nach irgendetwas, was ich sagen konnte, damit er nicht gleich einfach gehen würde.
"Du singst echt gut", sagte ich also einfach und erhielt ein aufgesetztes Lächeln und ein monotones "Danke" als Antwort. "Du bist auch ein ganz guter Drummer. Spielst schon länger, hm?", fügte er hinzu, ohne vom Wasser aufzuschauen. Ich nickte.

Wir schwiegen eine Weile, bis ich bemerkte, dass Johannes seine Zigarette fast aufgeraucht hatte und mir klar wurde, dass er dann keinen Grund mehr hätte, hier mit mir - einem völlig unbekannten und irgendwie 'zugelaufenem' Jungen - auf dieser kleinen Brücke zu stehen und um die Wette auf den Fluss zu starren. "Möchtest du auch eine?", fragte Johannes, als er meinen Blick auf seine Zigarette wahrnahm. Ich nickte einfach und hielt kurz darauf eine eigene zwischen meinen Fingern. Warte, was? Ich rauche doch gar nicht. Johannes hielt mir sein Feuerzeug hin, doch als ich nicht reagierte, stöhnte er, verdrehte die Augen und nahm mir meine Zigarette wieder ab, steckte sie sich selbst zwischen die Lippen und zündete sie an: "Hier." - "Danke", stotterte ich überrumpelt, nachdem er mir das angezündete Ding wieder in die Hand drückte. Zögernd nahm ich einen Zug und verfiel direkt in einen lauten Hustenanfall, woraufhin Johannes lachte: "Wieso war mir das klar?" Er schnaubte schon wieder verächtlich und ich unterdrückte mir nach jedem weiteren Zug das Husten, um ihm zu beweisen, dass ich nicht so ein Weichei war, für das er mich halten musste. Er drückte seinen Zigarettenstummel aus und warf diesen in den Fluss. "Na dann...", sagte er, drückte sich vom Geländer weg und wollte gerade gehen, als ich ihm hinterherrief: "Hey, warte mal." Johannes drehte sich zu mir um und runzelte erwartungsvoll die Stirn. "Hättest du Bock, in einer Band zu singen?" - "Was für eine Band? Deine?" Sein Blick strahlte etwas Neugier aus; das musste ich nutzen. "Ja, ich und drei Kumpels haben eine Band, aber uns fehlt noch ein Sänger." - "Und was macht ihr so für Musik?" - "Na, sowas wie wir eben gemacht haben im Kurs. Vielleicht noch etwas rockiger. Hättest du Lust, mal vorbeizuschauen?" Johannes zuckte anteilnahmslos mit den Schultern: "Warum nicht." Ich begann, breit zu strahlen und unterdrückte mir jeglichen Freudenschrei - Niels, Flo, Kris und ich suchten schon seit gefühlten Ewigkeiten nach einem Sänger und Johannes hatte die perfekte Stimme für unsere Band.
Ich ging einen Schritt auf ihn zu: "Also, kommst du mal bei einer unsrer Proben vorbei und singst 'ne Runde mit uns?" - "Wenn du dann aufhörst, mir meine Zigaretten wegzurauchen, obwohl du scheinbar nicht einmal rauchst, haben wir einen Deal." Er streckte mir mit einem schiefen Grinsen im Gesicht die Hand aus. Ich nickte vehement und schlug ein: "Deal."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt