Kapitel 45

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Ungläubig starrte ich Lukas hinterher; hatte er mir gerade wirklich gesagt, dass ich nicht mehr Bruder sei? Konnte man ernsthaft in so kurzer Zeit einen solchen Hass gegenüber einer geliebten Person entwickeln und ihn verstoßen, obwohl diese Person zur engsten Familie gehört? Lukas konnte es und er tat es.
Mit schmerzendem Herzen kniff ich meine Augen zu - in der Hoffnung, beim Öffnen in meinem Bett zu liegen und festzustellen, dass alles bloß ein schlechter Traum war. Vor meinem inneren Auge spielten sich Szenen aus meiner Kindheit ab; Lukas war immer diese Art großer Bruder, der vor seinen Freunden fies zu mir war, aber wenn es hart auf hart kam, stand er hinter mir. Ich wusste immer, dass ich mich auf ihn verlassen konnte, weshalb ich einfach nicht glauben konnte, dass das eben Geschehene wirklich die Realität gewesen sein soll.
Doch als ich vorsichtig blinzelte, stand ich tatsächlich immer noch auf der Straße; Lukas vor mir, der sich immer weiter entfernte - sowohl physisch, als auch psychisch. Die Erinnerungen mit ihm als beschützenden großen Bruder verblassten mit dem auf mich prassenden Regen und machten Platz für das Gespräch von gerade eben; Platz für die Beleidigungen, Platz für seinen Hass.

Erst jetzt nahm ich Johannes wahr, welcher vorm Regen geschützt unter der Überdachung meines Elternhauses stand und wohl alles mit angehört hatte. Trotz der Entfernung verriet mir sein Blick seine Sorge und sein Mitgefühl mir gegenüber und ich wollte gerade nichts sehnlicher, als seine starken Arme um mich geschlungen zu fühlen und seine warme Stimme zu hören, die mir zuflüsterte, dass alles gut werden würde.

Doch in genau diesem Moment schien auch Lukas ihn zu bemerken; sein Schritt beschleunigte sich und ich hörte ihn unaufhörlich teils homophobe Beleidigungen rufen, wovon eine schlimmer war, als die andere. Als er Johannes erreichte, packte er ihn ohne Vorwarnung am Kragen seiner dunklen Jacke und drückte ihn gegen die kahle Hauswand. Ich löste mich aus meiner Starre und befahl meinen Füßen, sich in Bewegung zu setzen. Ich wusste, dass die ganze Situation eskalieren würde, wenn ich nichts tat, und so rannte ich.
Ich sah, wie Lukas Johannes etwas zuflüsterte, woraufhin dieser für mich hörbar mit "Lass mich los!" antwortete, doch ehe ich mich versah, holte mein Bruder aus und seine geballte Faust landete in Johannes Gesicht. Dieser gab nur einen schmerzerfüllten Laut von sich und kniff für einen kurzen Moment seine Augen fest zusammen, was Lukas ausnutzte, um den nächsten Schlag in jenes Magengrube zu platzieren. Johannes ring nach Luft, krümmte sich dann laut stöhnend, doch selbst jetzt ließ mein Bruder nicht von seinem Kragen ab.

Ich spürte, wie mein Herz kurz aussetze, als ich die Qualen in Johannes' Ausdruck sah. Mein Mund und meine Zunge waren wie gelähmt; ich war unfähig, auch nur einen Ton zu sagen, als ich die beiden endlich erreichte. Als ich stattdessen mich einfach zwischen die zwei schieben wollte, tauchte Papa auf dem Hof auf. Er packte seinen Sohn an den Schultern, schob ihn von Johannes weg und schüttelte ihn: "Herrgott, Lukas! Was soll das bitte?!" - "Was das soll?!", schrie Lukas so laut, dass spätestens jetzt wohl die gesamte Nachbarschaft an ihren Fenstern hing, um das Spektakel, das ihnen hier geboten wurde, zu beobachten. "Dieser Mistkerl hat euren Sohn zur Schwuchtel gemacht und ihr nehmt das einfach so hin? Er soll dafür büßen, verdammt!" Während die beiden zu diskutieren begannen, ging ich auf Johannes zu; sein Gesicht war blutverschmiert, die Schmerzen, die er hatte, konnte man in seinen Augen ablesen und er konnte kaum gerade stehen - so sehr muss die Faust in seinen Magen gesessen haben.

Ich konnte mir nur ausmalen, wie sehr ein Schlag von Lukas wehtun musste. Mit dreizehn Jahren bekam er Aggressionsprobleme, geriet immer häufiger in Schlägereien und wäre fast vorbestraft gewesen. Doch er kriegte kurz vor seinem Abschluss die Kurve, machte eine Therapie, trat einem Boxverein bei, in dem er heute noch aktiv ist, und erreichte einen so guten Abischnitt, dass er tatsächlich Medizin studieren konnte. Es war Ewigkeiten her, dass ich Lukas so gesehen habe; sein Kopf knallrot vor Wut, eine Ader, die an seiner Schläfe heraustrat, keine Kontrolle über sich und sein Handeln und dieser unerbittliche Hass in seinen Augen.

Ich wollte gerade nach Johannes' Gesicht schauen und streckte dafür vorsichtig meine Hand danach aus, doch Johannes schlug diese weg - sein Blick war auf meinen Bruder gerichtet: "Deine Reaktion auf das Outing deines Bruders, ist das erbärmlichste, was ich je erlebt habe", unterbrach er den Streit zwischen Vater und Sohn. Er hatte all seine Kraft noch ein letztes Mal zusammengekratzt, um seine Stimme fast schon bedrohlich und hasserfüllt klingen zu lassen. Lukas befreite sich aus dem festen Griff unseres Vaters, verpasste Johannes einen letzten heftigen Hieb ins Gesicht und packte ihn erneut an den Kragen seiner Jacke: "Halt' dein Maul", brüllte er, und schubste den deutlich geschwächten Johannes, der dank des letzten Schlages den Kopf kaum mehr oben halten konnte, so hart mit den Rücken gegen die Hauswand, dass jener zusammenbrach und einfach stöhnend zu Boden sackte.

Ich kam mir lächerlich vor, wie ich da stand; vollkommen hilflos, während mein Bruder gerade meinen Freund zusammengeschlagen hatte, sich nun an unseren Vater vorbeidrängte, ins Auto stieg und davon fuhr. Papa hockte sich zu Johannes, doch was er sagte, konnte ich kaum verstehen; es drehte sich in diesem Moment alles, mir wurde kotzübel und ich stütze mich mit einer Hand an der Wand ab. Ich erkannte meine Mutter, die mit zugehaltenem Mund schockiert in der Haustür stand und zwischen uns drei Übriggebliebenen hin und her sah. Während Papa Johannes auf die Beine half und ihn ins Haus stützte, konnte ich nicht anderes, als mich urplötzlich zu übergeben. Ich spürte eine Hand, die über meinen Rücken strich, und ich hörte die Stimme meiner Mutter, die wie ein Mantra immer wieder die selben zwei Sätze flehend wiederholte: "Beruhige dich, Jakob; bitte. Es wird alles wieder gut."

Erst jetzt realisierte ich die Tränen, die unaufhörlich über mein Gesicht rannen und von dort aus irgendwann zu Boden tropften, während ich fast schon hyperventilierte. Ich war ein Feigling, habe einfach mit angesehen, wie Johannes einen Schlag nach dem anderen verpasst bekam ohne auch nur ein Wort zu sagen oder einen Finger zu rühren. Doch ich konnte nicht, war ich doch einfach viel zu perplex. Ich hörte ein letztes Mal, das Mantra meiner Mutter, bis sich das Drehen der Welt um mich beschleunigte, und ich nur noch schwarz sah.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt