Kapitel 107

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Mit schwitzigen Händen zog ich Ricks Wohnungsschlüssel aus meiner Hosentasche und steckte jenen in das Schlüsselloch. Möglichst leise, obwohl ich ganz genau wusste, dass Rick auf mich wartete, betrat ich seine Wohnung, stellte meine Schuhe zu dem Haufen von Ricks heißgeliebten Sneakern, und hängte meine Jacke an die Garderobe.
"Da bist du ja", hörte ich schon das Lächeln meines Freundes hinter mir und ich drehte mich ganz zögerlich - fast schon ängstlich - herum: "Ich hab' doch geschrieben, dass ich aufm Weg bin." - "Aber ich weiß immer noch nicht, wo du warst." Verschmitzt grinsend schmiegte Rick sich an mich und küsste mich sanft, bevor ich ihn vorsichtig von mir wegschob und beschämt zu Boden sah - ich fühlte mich schrecklich.
"Lass uns ins Wohnzimmer", schlug ich vor und ging ohne weiteres den Flur entlang, bis hin zur großen Flügeltür, hinter der der lichtdurchflutete Raum lag, wo ich mich aufs Sofa setzte und Rick mit einem Blick dazu aufforderte, meinem Beispiel zu folgen.

"Jakob, was stimmt ni–" - "Ich hab' mit Johannes geschlafen", unterbrach ich ihn direkt, um uns das unnötig Drum-Herum-Gedruckse zu ersparen. Sein Gesicht färbte sich augenblicklich kalkweiß und seine Augen spiegelten Unglaube wieder, der mich noch härter traf, als gedacht.
"W-was? Ge-gerade eben?"
Ich nickte einmal kurz, richtete meinen Blick auf das Parkett unter uns und schloss für ein paar Sekunden die Augen, ehe ich den verwirrten blonden, jungen Mann vor mir wieder ansah: "Es tut mir leid", flüsterte ich gebrochen, während ich die aufkommenden Tränen brennen spürte.
"Du... Vor ein paar Stunden, da war doch alles noch..." Rick unterbrach sich selbst. Er verstand absolut rein gar nichts und knibbelte nervös an seinen Fingern herum. Seine Augen wirkten glasig, doch er schien sich unter Kontrolle zu haben - irgendwie. "Warum?", war das einzige, das er noch über seine Lippen brachte.
"Ich weiß es nicht, es war... Letzte Nacht hatten wir uns schon geküsst, er hatte meine Trunkenheit komplett ausgenutzt, was aber nicht heißen soll, dass ich keinerlei Schuld trage. Heute morgen wollte ich nur zu ihm, um ihn zu sagen, dass er seine Spielchen lassen soll und er akzeptieren muss, dass ich mit dir zusammen bin, aber dann..." Mein Atem zitterte, während ich tief ein- und ausatmete. "Ich wollte das so nicht. Ich wollte nicht mit ihm schlafen und ich wollte dich erst recht nicht verletzen. Du hast sowas nicht verdient und es tut mir ehrlich und aufrichtig leid, Rick." - "Okay", murmelte er geistesabwesend, während sein starrer Blick auf den Wohnzimmertisch gerichtet war. Ich beobachtete ihn einfach nur forschend, da ich keine Ahnung hatte, ob er noch auf irgendetwas von mir wartete oder ob er überlegte, was er selbst sagen sollte.

Plötzlich lachte er bitter auf und rieb sich mit seiner linken Hand durchs Gesicht, was in mir drinnen noch ein viel größeres Fragezeichen hinterließ.
"Ich hab' zwar geahnt, dass das früher oder später passieren wird, aber es trifft mich dann doch ziemlich hart." Rick lachte noch einmal auf, es wirkte fast schon verzweifelt und dennoch wusste ich nicht, was ich tun sollte, da seine Aussage mich nur noch mehr verwirrte: "Was meinst du?" - "Ach komm schon, Jakob. Johannes ist immer noch ein wichtiger Teil in deinem Leben und dass er dich immer noch liebt, wundert mich nach deinen Erzählungen und seinem Verhalten gestern auch nicht wirklich."
Da lag kein Vorwurf in seiner Stimme, nur reines Wissen und der Klang von Traurigkeit. Ich sackte ein wenig in mich zusammen, weil ich mich so schlecht fühlte und ich Rick niemals in so eine Situation bringen wollte, wie ich es vor einem Jahr selbst gewesen bin.

"Sag mir nur eins, bitte", setzte Rick wieder an und schaute mich mit seinen hellen, glasigen Augen an, "War es nur eine Form von endgültigem Abschied und dem Sehnen nach ein paar letzten Berührungen oder hatte es mehr Bedeutung für dich gehabt?" Seine ruhige Stimme und die Art und Weise, wie er mit der ganzen Sache umging, machte das Chaos in mir nur schlimmer; er sollte mich anschreien, mich 'rausschmeißen und in Ruhe darüber nachdenken, ob er mich jemals wiedersehen möchte.
"Was... Wie bitte?", hakte ich nochmal nach, da ich mir nicht so ganz sicher war, was er damit sagen wollte.
Nachdem Rick kurz mit sich selbst zu hadern schien, platzierte er etwas zögerlich seine Hand auf meinem Oberschenkel. Stirnrunzelnd sah ich von seiner warmen Hand auf in sein Gesicht: "Ich will dich nicht verlieren, Jakob. Wenn es einfach nur eine einmalige Sache war und du jetzt endlich mit dem Thema Johannes abschließen konntest... Dann vergessen wir das einfach alles. Wenn du aber immer noch etwas für Johannes empfindest und glaubst, dass es dir mit ihm besser geht, dann sei bitte ehrlich zu dir selbst und dann ziehen wir jetzt und hier die Reißleine, bevor es noch schlimmer wird."

Mein Atem setzte aus, während ich ungläubig in Ricks Augen starrte, die seine unendliche Großherzigkeit widerspiegelten. Er war sofort bereit, mir zu verzeihen? Er könnte darüber hinwegsehen, dass ich ihn mit meinem Ex betrogen hatte? Tränen brannten in meinen Augen; zu viele Gefühle auf einmal sind allein in den letzten paar Stunden durch meinen Körper geströmt und haben meine Gedanken immer wieder umgekrempelt.
Ich dachte an Johannes. An Johannes, der seinen Fehler mittlerweile bereute, mich liebte und vermisste. Der mich zurückwollte und automatisch davon ausging, dass ich ihn auch zurücknehmen würde, weil ich ja schließlich mit ihm geschlafen hatte. Ich dachte daran, wie er mir damals wahrscheinlich nicht einmal sofort gesagt hätte, dass er mir fremdgegangen war, und wie er im ersten Moment eher weniger Reue gezeigt hatte, während ich hier fast einging vor schlechtem Gewissen, weil ich Rick so wehgetan hatte. Johannes leidet im Nachhinein selbst so sehr unter seinem Fehler und ging nun das Risiko ein, dass es mir genauso ging. Nachdem ich zuallererst vor einigen Jahren derjenige war, mit dem fremdgegangen wurde, war ich letztes Jahr derjenige, dem fremdgegangen wurde, und nun bin ich derjenige, der fremdgegangen ist. Und Johannes schaute zu, verursachte zweites und provozierte drittes.

Ich spürte plötzlich wieder enorme Wut gegen den Sänger. Erneut kam mir das Wort "Egoist" in den Sinn. Er hatte eben direkt erwartet, dass ich mit Rick Schluss mache, obwohl ich ihm gerade zuvor gesagt hatte, dass ich keine Ahnung hatte, ob ich einen neuen Versuch für Jo und mich für sinnvoll hielt. Ich wollte nicht nochmal verletzt werden, doch er hatte es nicht verstanden. Er wollte wieder mit mir zusammen sein und dafür hat er in Kauf genommen, dass ich mich schrecklich fühle, weil ich jemandem so sehr wehgetan habe, wie mir wehgetan wurde.
Und dann gab es da Rick, der selbstloser und gutmütiger nicht hätte sein können. Der Verständnis aufbrachte und der mir vergeben wollte, aber nur, wenn ich mir wirklich sicher war, dass ich mir nichts vormachte und damit ihn und mich damit nicht noch weiter ins Verderben stürzte.
Ja, vielleicht empfand ich noch etwas für Johannes. Doch mit ihm wäre es ein weiteres, ständiges Auf und Ab, an dem ich eines Tages zerbrechen würde.
Bei Rick dagegen wusste ich, dass er mich wahrhaftig glücklich machen könnte, wenn ich mich erst einmal richtig darauf einlassen würde. Vielleicht kommen die großen Gefühle dann ganz von allein.

Ich legte meine Hand behutsam auf die von Rick, die immer noch auf etwas oberhalb meines Knies ruhte, und sah den Blondschopf eindringlich an: "Ich verspreche dir, dir nie wieder so wehzutun." Meine Stimme war brüchig, aber man hörte trotzdem 'raus, wie ernst es mir war. Rick musste mir glauben. Er konnte mir glauben. Nie wieder würde ich mich auf so ein dämliches Spiel von Jo einlassen. Ich musste abschließen - mit ihm, mit uns. Und das würde ich.
"Ich bin durch mit Johannes", versprach ich noch leise, woraufhin Ricks Gesichtsausdruck sich langsam lockerte, er sich noch ein paar Tränen verkniff und mit aufeinandergepressten Lippen einmal nickte.

xxx

Johannes Strate [14:52]
Bin gleich an der Brücke. Kann's kaum erwarten❤️

Johannes Strate [15:08]
Bist du unterwegs?

Johannes Strate [15:14]
Jay? Gibt es so viel Stress mit Rick?

Ich [15:16]
Du hast es selbst gesagt; Rick tut mir gut.
Bitte verstehe meine Entscheidung.
Ich werde nicht kommen. Es tut mir leid.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt