Kapitel 39

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Die Tage verstrichen, vom Winter war kaum mehr etwas zu spüren und die ersten Pflanzen begannen wieder aufzublühen. Der März war fast angebrochen und die größten Wunden, die sich in manch einem Herzen geöffnet hatten, waren verheilt. Dennoch war in Johannes etwas gebrochen, was nie wieder komplett sein könnte. Etwas, von dem er vor der Hiobsbotschaft nicht einmal wusste, dass er es besaß. Ich kann es nicht benennen, doch in seinen traurigen Momenten, wenn man Johannes tief in die Augen sah, dann konnte man es erkennen.
Er traf sich hin und wieder mit Anna und ich hatte das Gefühl, ihm würde es helfen. Ihnen beide. Sie redeten viel, versuchten es zusammen zu verarbeiten und scheinbar war es wenigstens ein kleiner Schritt in Richtung Hoffnung. Hoffnung auf eine eventuelle Freundschaft, Hoffnung auf so etwas, wie Seelenfrieden,  und Hoffnung darauf, den Verlust zu verkraften. Ich gönnte es Johannes mit jeder Faser meines Körpers. Doch auch, wenn sich die Momente seines Glücklich-Seins häuften; mein schlechtes Gewissen, meine Vorwürfe und das Denken, ich wäre Schuld an dem allen, fraßen mich von Tag zu Tag mehr auf.

"Okay, das hat so heute keinen Sinn", murmelte Kris und legte dabei frustriert seine Gitarre ab. Wir befanden uns im Proberaum und unternahmen die letzten Feinschliffe für die kommende Tournee, doch ich war mit den Gedanken vollkommen woanders. "Tut mir leid", entschuldigte ich mich also kleinlaut, ehe ich aufstand und - wütend auf mich selbst - aus dem Proberaum stürmte. Auf Johannes' Nachruf "Wo willst du hin?" antwortete ich lediglich damit, dass ich etwas frische Luft benötigte.

Draußen ließ ich mich an die Wand des Gebäudes fallen und schloss die Augen; ich wollte alles um mich herum vergessen. "Schieß' los: was ist passiert?" Niels tauchte neben mir auf und ohne die Augen zu öffnen, wusste ich ganz genau, mit welchem Blick er mich ansah: den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Stirn in Falten gelegt, die blauen Augen auf mich fixiert und mein Gesicht musternd, während man das Gefühl hat, das Wort  Besorgnis würde dick und kursiv gedruckt in seinen Pupillen stehen.
Als ich ihn dann doch ansah, musste ich schmunzeln, da sich meine Vorstellung bestätigte. "Alles in Ordnung", gab ich lediglich zurück, schloss wieder meine Augen und legte meinen Kopf in den Nacken. Ich wusste, dass Niels sich damit nicht zufrieden geben würde und damit hatte ich Recht; er lehnte sich neben mich an die Wand und stieß mir sanft seinen Ellenbogen in die Seite: "Na, komm schon, Jakob. Für wie blöd hältst du mich?" Ich atmete tief durch, vergrub meine Hände noch tiefer in meinen Jackentaschen und verharrte so kurz.

"Es ist noch wegen dem Baby, oder?" Sofort verspürte ich einen unangenehmen Schmerz, der sich in mir breit machte. Ich schluckte und nickte einmal kurz: "Es wäre nicht passiert, wenn ich Johannes einfach in Ruhe gelassen hätte." Ich öffnete meine Augen und sah zu Niels, der mich nachdenklich musterte und den Kopf schüttelte: "Du solltest dir keine Vorwürfe machen. Erstens ist das totaler Blödsinn; ich meine, du konntest das alles doch nicht ahnen und du hattest nie die Absicht, irgendjemandem wehzutun. Und zweitens; man kann jetzt eh nichts mehr ändern. Johannes und Anna kommen nun langsam 'drüber hinweg und das solltest du auch."

Ja, jeder kam über das Kind hinweg, doch nicht ich. Unsere Freunde, die nach und nach alle von dem Verlust erfahren haben, waren ebenfalls getroffen. Wir halfen uns alle gegenseitig und fanden Trost und Ablenkung beieinander. Doch ich dachte immer noch viel zu oft an das Kind und an das, was passiert wäre, wenn ich Johannes nicht so dazu gedrängt hätte, endlich ehrlich zu sich zu sein. Vielleicht hat er für Anna nie so viel empfunden, wie für mich, aber er hätte das Baby mehr geliebt, als alles andere und es hätte ihn wahrscheinlich glücklicher gemacht, als ich es je können würde.

"Versuch', darüber hinwegzukommen." Niels lächelte mich ermutigend an und legte behutsam seine Hand auf meine Schulter. Ich zwang mich dazu, meine Mundwinkel nach oben zu ziehen und war in diesem Moment mal wieder unendlich dankbar einen Freund wie Niels zu haben, bis Johannes urplötzlich hinter ihm auftauchte und mich mit ernstem Gesichtsausdruck ansah.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt