Kapitel 89

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Die meiste Zeit über schwiegen Niels und ich, während wir den Weg zu dem Café bestritten, in welchem wir während unserer Proben schon immer Kaffee geholt hatten. Ich fühlte mich immer noch nicht in der Lage dazu, etwas zu sagen, und war mit meinen Gedanken ohnehin soweit weg, dass Niels auch einfach hätte stehen bleiben oder vor eine Laterne hätte laufen können, ohne dass ich etwas davon mitbekommen hätte.

"Ich muss mich wohl erstmal wieder daran gewöhnen, so lange in seiner Nähe zu sein, seine Stimme zu hören, all sowas halt", murmelte ich schließlich, nachdem ich mir selbst meinen Aussetzer während der Probe eben erklären konnte. Niels' Blick schweifte zu mir, während ich weiterhin stur auf den Bordstein starrte, der sich unter uns erstreckte. Das konstante, gleichmäßige Grau wirkte fast schon beruhigend auf mich.
"Ich habe gedacht, es wäre leichter." - "Es wird leichter, wenn du über ihn hinweg bist." Nun hob ich jetzt doch meinen Blick und sah meinem besten Freund direkt in seine blauen Augen, die mir mit diesem bestimmten Ausdruck darin Mut zusprechen wollten.
"Und wann wird das bitte sein? Wer garantiert mir, dass ich das jemals sein werde?" Unbeabsichtigt entkam mir ein leises, verächtliches Schnauben und Niels schaute bedrückt zu Boden. Er konnte mir keine Antwort geben. Niemand konnte das.

"Moin", begrüßte uns die Bedienung im Café fröhlich, als wir dieses gerade betraten. Ich glaube, sie hieß Tamara, wenn ich mich richtig erinnere. "Hab' euch ja schon ewig nicht mehr gesehen." - "Wir haben uns auch mal 'ne Pause gegönnt", grinste Niels schulterzuckend und ich lächelte die junge Frau nur höflich an. Ich war nicht interessiert an Smalltalk, hätte mich sowieso nicht darauf einlassen können, selbst wenn ich gewollt hätte.
"Sieben große Kaffee zum mitnehmen, bitte", bestellte der Gitarrist neben mir und Tamara widmete sich ihrer Arbeit, während Niels und ich - erneut schweigend - auf die heißen Getränke warteten, die uns nach einigen Minuten in zwei praktischen Tragehilfen vor die Nase gestellt wurden.
Ich legte das Geld inklusive Trinkgeld passend auf den Tresen, Niels bedankte sich bei Tamara und versprach ihr, dass wir uns mal wieder öfter blicken lassen, und schnappte sich die beide Tragehilfen, von denen er mir die eine in die Hand drückte, und wir das Café verließen.

"Johannes hat eben direkt vor der Probe mitbekommen, dass ich mich mit anderen treffe", nuschelte ich, als wir uns wieder auf den Rückweg zum Proberaum machten. Fragend und verwirrt sah Niels mich, doch bevor er auch nur hätte nachhaken können, kam ich ihm zuvor: "Nichts Ernstes. Kris hatte mich letzte Woche überzeugt, dass ich nach vorne sehen muss, also... naja, schaue ich mich halt ein wenig um. Ganz unverbindlich." - "Unverbindlich." Ich wusste nicht, ob es eine reine Wiederholung oder eine Verständnisfrage war, doch ich nickte einfach. Seufzend fuhr Niels sich durch seine Haare: "Also... One Night Stands?" Ich straffte meine Schultern. Was sollte ich darauf sagen? Rick hatte ich immerhin bereits dreimal getroffen, also hatte ich - wenn man es genau nahm - nur diesen einen One Night Stand von letzter Nacht mit einem Mann, um dessen Namen ich mich nicht einmal geschert hatte. Aber eigentlich hatte ich mir für das kommende Wochenende wieder vorgenommen, loszuziehen.
"Ach Jakob", seufzte der Gitarrist leise und eventuell etwas enttäuscht. Ich antwortete darauf nicht, fuhr einfach nur mit meinem Daumen über einen der vier Kaffeebecher in meiner Tragehilfe und ließ Niels Zeit, sich eine Meinung zu dem Thema zu bilden.

"Und Johannes hat davon mitbekommen?", griff er das Thema schließlich einfach wieder auf.
"Ja. Ich weiß nicht, ob er denkt, dass ich wirklich jemanden date oder ob er sich schon denken kann, worum es eigentlich geht." - "Und wie hat er reagiert?"
Ich schluckte schwer bei der Erinnerung: "Er hat gesagt, er hofft, dass ich glücklich bin." - "Aber das bist du nicht." Niels sah mich ernst und herausfordernd an und ging vermutlich davon aus, ich würde ihm widersprechen. Doch das wäre völliger Unsinn; immerhin hatte er vor einer halben Stunde selbst mitbekommen, wie mich Johannes noch unter Kontrolle hatte.
"Nein, bin ich nicht. Aber das ist kein Grund, guten Sex zu verweigern." Ich schmunzelte kurz und zuckte unschuldig mit meinen Schultern, balancierte den Kaffeehalter in einer Hand und steckte die andere in meine Manteltasche. Es sollte mich wahrscheinlich nicht so beschäftigen, dass Johannes das Gespräch von Kris und mir mitbekommen hatte. Ich war dabei, den vor wenigen Monaten entstanden Trümmerhaufen meines Lebens zu beseitigen, und daran sollte mich ausgerechnet Jo oder die Gedanken an ihn nicht hindern. Ich musste keine Rücksicht auf ihn nehmen, immerhin hatte er auch keine auf mich genommen, als er mir fremdgegangen war.
Die Erinnerungen daran versetzte mir immer noch einen bestialischen Stich im Herzen. Genau das sollte irgendwann aufhören. Ich wollte irgendwann nicht mehr diesen Schmerz spüren, wenn ich an Johannes, unsere Beziehung oder das Ende davon dachte.

"Denkst du, du kannst da wieder 'rein?", hakte Niels vorsichtig nach, als wir wieder vor dem Gebäude standen, in dem sich unser Proberaum befand.
"Ich hab' keine andere Wahl, oder?" Ich zwang mir ein Lächeln auf, doch die Miene des Gitarristen blieb unverändert ernst und besorgt. Ich verdrehte die Augen und zuckte mit meinen Schultern: "Ist ja heute nicht mehr lange. Und solange ihr mir solche Aussetzer verzeiht und die ein oder andere Pause erlaubt, werde ich die ganze Sache wohl überstehen." Niels nickte einmal und ich verspürte erneut den Drang, mich bei ihm zu bedanken. Dafür, dass er sich bedingungslos meinen Problemen widmete und mir damit half, mir zuhörte und ich mich auf ihn verlassen konnte. Dafür, dass er trotz allem auch Johannes zur Seite stand. Dafür, dass er der verständlichste Mensch auf diesem Planeten war.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt