Kapitel 88

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Nach einigen Minuten des betretenden Schweigens, das lediglich durch Johannes' Anspielen und Stimmen der Saiten seiner Gitarren unterbrochen wurde, erreichten nach und nach auch die anderen den Proberaum. Sie bemerkten sofort die in der Luft liegende Anspannung, ignorierten sie allerdings gekonnt, nachdem ich ihnen, direkt nachdem sie den Raum betreten hatten, einen vielsagenden Blick zugeworfen hatte. Ich wollte keine Sprüche, Fragen oder Anmerkungen bezüglich Johannes und mir hören und ich war mir sicher, dass es ihm nicht anders ging - wir wollten den Tag und die kommenden Wochen einfach nur überstehen und ein gutes Album produzieren.

"Können wir uns direkt an die Arbeit machen?", fragte Sascha höchstmotiviert in die Runde und schlug voller Tatendrang in seine Hände.
Erst jetzt schien Johannes ihn, Niels, Chris und Arne bemerkt zu haben, denn er hörte augenblicklich auf, seine Gitarre zu stimmen, und schaute erschrocken von dieser hoch.
Sein Blick schweifte zu mir und traf den meinen so unerwartet intensiv, dass wir beide kaum merklich zusammenzuckten. Gänsehaut breitete sich auf meinem Körper aus und im Augenwinkel bemerkte ich, wie sich Jos Griff um den Hals seiner Gitarre verstärkte.
Ich nickte - nur einmal und nur ganz leicht, doch Johannes hatte es gesehen, bestätige es ebenfalls mit einem kurzen Nicken und ich richtete mich schließlich an Sascha: "Ja, ich denke... Ich denke, wir können anfangen."

Johannes und ich würden es versuchen - wir hatten es unseren Freunden versprochen, den Menschen, die sogar jetzt noch zu uns hielten. Zu uns beiden.
Wir würden versuchen, das mit Revolverheld hinzubekommen, uns zumindest für unsere Musik, unsere Leidenschaft und unsere geliebte Band am Riemen zu reißen.

Wir alle setzten uns an unseren jeweiligen Platz, ich griff mir zwei Drumsticks aus dem kleinen Becher aus Metall, der auf dem Boden stand, und versuchte, die skeptischen Blicke, die Kris und Niels miteinander tauschten, zu ignorieren.
"Wollen wir direkt hiermit anfangen?", fragte Johannes nach kurzem Räuspern und deutete auf das Notenblatt, das als Oberstes vor ihm lag.

Wir starteten also mit einem Song, den ich schon ziemlich fließend beherrschte und sicher den Takt vorgab, auf den sich die anderen einstimmten.
Zwar lief es nicht direkt ganz rund und es gab hier und da ein paar schiefe oder falsch gesetzte Töne zu hören, doch ingesamt lief es von Anfang an überraschend gut. Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass zwischen unserer letzten Probe und dieser hier sechs Monate, eine Trennung, ein riesiges Drama und einige Songänderungen lagen.

Beim zweiten Durchgang eines relativ ruhigen Liedes, wanderte mein Blick zu meiner Linken, wo Kris saß, mit seiner geliebten Akustik-Gitarre in dunklem Holz auf dem Schoß, seine Finger sanft und doch flink die Saiten zupfend und sein Kopf ulkig bei jedem neuen Ton mitwippend.
Augenblicklich stahl sich ein Lächeln auf meinen Mund, welches ich nicht aufhielt. Kris hatte schon immer so eine Art an sich, mit der er manchmal mit seinem bloßen Gesichtsausdruck schon die Laune heben konnte. Er hatte solch eine Leichtigkeit, Glück und Zuversicht in seinen weichen Zügen liegen, dass ich gar nicht anders konnte, als sie einfach in mir aufzunehmen.

Ich sah zu Niels, der zwar wie immer völlig versunken in dem war, was er gerade spielte, doch ich hatte auch seine Anspannung nachdem wir das ersten Durchgang fertig hatten, mit einem Seufzer abfallen hören.
Es machte mich glücklich, meine Freunde endlich wieder so zu sehen, wie sie sein sollten. Unbeschwert das zu tun, was sie am liebsten taten. Sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen zu müssen, keine Sorgen um mich und Johannes.
Wir lebten einfach für den Moment, für die Lieder, die wir spielten, die Musik, die uns verbund.

Ich konzentrierte mich auf nichts anderes und in mir war nur Platz für dieses eine, belebende Gefühl, das endlich wieder Helle in die triste Dunkelheit meines Inneren brachte.
Zum ersten Mal glaubte ich fest daran, dass wir das schaffen konnten. Ich musste es nicht laut aussprechen, da war nicht mehr der Hintergedanke, dass es einfach klappen muss, einfach nur erfüllende Zuversicht, dass es klappen wird
Ich schloß die Augen und ließ die verschiedenen Puzzleteile der Melodie auf mich wirken.

All die Male, als ich darüber nachgedacht hatte, wie es mit Revolverheld weitergehen würde, redete ich mir ein, dass es funktionieren würde. Ich sagte mir, dass es das musste. Dass endlich mal wieder etwas in meinem Leben funktionieren musste.
Doch heute - zum ersten Mal - glaubte ich an meine eigenen Worte und zum ersten Mal kam es mir nicht völlig hirnrissig vor, mit dem Ex eine Band zu führen.

Ich lauschte seiner Stimme.
Johannes' wunderbarer, weicher Stimme.
Die Stimme, die so viel Schönes zu mir gesagt hatte und mich noch viel Schöneres hat spüren lassen.
Die Stimme, die mich von Anfang an in ihren Bann gezogen hatte - damals beim Popkurs. So viele Erinnerungen waren mit dieser Stimme verbunden. Erinnerungen an eine schöne Zeit, die ein bitteres Ende gefunden hatte.
Plötzlich hörte ich nur noch diese Stimme und sah sein Gesicht, obwohl ich die Augen geschlossen hielt.
Sein Gesicht, voll mit Emotionen der Schuld, der Reue, der Wut auf sich selbst. Emotionen, von denen ich nichts wissen wollte - die ich nicht verdient hatte, sehen zu müssen.
Die Stimme bohrte sich immer penetranter und verzerrter in mein Ohr, bis ich es nicht mehr aushielt.

Ich hörte prompt auf zu spielen, meine Finger waren zu schwach, um die Drumsticks zu halten. Die anderen verstummten, drehten sich mit fragenden Blicken zu mir um, doch ich starrte nur ihn an. Das Braun seiner Augen hatte seit unserer Trennung an Glanz verloren, wirkte traurig und matt. Besorgt zog er seine Augenbrauen zusammen, ich nahm dumpf Chris' Stimme war, die fragte, ob alles in Ordnung sei, doch ich reagierte nicht darauf. Stattdessen brach ich den Augenkontakt zu Johannes ab, sprang wie von der Tarantel gestochen auf und stürmte aus dem Proberaum. Ich spürte nur, wie Sascha versuchte, mich festzuhalten, doch seiner Finger streiften lediglich den Stoff meines Pullovers, konnten ihn gar nicht greifen, so schnell war ich verschwunden.

Vermutlich war ich noch nie so schnell eine Treppe hinuntergerannt, wie in diesem Moment, doch ich hatte das Gefühl, ich würde ersticken, wenn ich nicht augenblicklich an die frische Luft gelangte. Die ganze Atmosphäre im Proberaum hatte auf einmal viel zu erdrückend gewirkt, ich hatte Johannes' Nähe - seine Stimme - nicht mehr ertragen können.

Draußen angelangt holte ich so tief Luft, als ob mich jemand kurz vorher minutenlang unter Wasser gedrückt hatte. Meine anschließende Atmung ging schnell und flach, ich versuchte mich zu beruhigen, indem ich auf und ab lief, mir durchs Gesicht strich und mich dazu zwang, langsamer zu atmen, bis ich mich letztendlich beruhigt hatte und mich gegen die Hauswand lehnte. Ich ließ meine Lider zufallen, wollte einen freien Kopf bekommen.
Kaum hatte ich meine Augen wieder geöffnet, trat Niels aus dem Gebäude. Er hielt meine Jacke in der Hand und reichte sie mir vorsichtig: "Geht's?" Ich nickte hastig, vielleicht zu hastig. Der Gitarrist sah mich mitleidig an, blickte kurz zurück zum Eingang, legte seine Hand an meinen Rücken und schob mich wider Erwartens die Straße 'runter: "Komm, wir holen 'ne Runde Kaffee."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt