Kapitel 78

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~ Johannes' Sicht ~

Er meldete sich nicht. Und ich meldete mich auch nicht bei ihm. Es herrschte Funkstille zwischen uns. Eigentlich zwischen mir und jedem aus meinem Umfeld. Seit jenem Samstagmorgen, nachdem Jakob mit gepackter Tasche unsere Wohnung verlassen hatte, verschanzte ich mich in dieser, nahm keine Anrufe entgegen und schenkte meinem Handy allgemein keinerlei Beachtung.
Neun Tage waren seitdem vergangen - seit dem 14. April - und der Pizzabote von meinem Lieblingsitaliener ein paar Straßen weiter sah mich mit jedem weiteren Tag, an dem er mir Pasta oder Pizza brachte, nur noch mitleidiger an. Ich war ein Wrack. So sah ich nicht nur aus, so fühlte ich mich auch. Ich wollte den ganzen Tag einfach nur in meinem Bett liegen und schlafen, auf irgendetwas von Jakob warten und mich selbst hassen und bemitleiden, für all das, was passiert ist. Ich vermisste ihn. Ich vermisste ihn schrecklich. Sein Lachen, seine Nähe, seine Küsse und Berührungen, seine Stimme, seine funkelnd blauen Augen. Einfach ihn. Den Jakob, den ich vier Jahre lang meinen Jakob nennen durfte. Und jetzt hatte ich die Befürchtung, dass ich das nie wieder machen dürfte. Wie sollte das alles nur weitergehen? Allein mit der Band. Revolverheld würde Anfang Mai mit der Aufnahme des neuen Albums beginnen. Wir sollten die letzten Wochen dafür nochmal nutzen, Kräfte zu sammeln, um topvorbereitet, fit und motiviert zu sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie die bevorstehenden, finalen Proben verlaufen sollten, wie ich Jakob nur gegenüber treten sollte, ohne auf der Stelle davon zu rennen. Wie die entscheidende Aufnahme nur verlaufen sollte, die so wichtig für uns alle war, bei der sich die ganze Band nur darauf konzentrieren sollte und ich jetzt schon wusste, dass es Zwei von uns nicht taten.

Bei einem Blick aus unserer großen Fensterfront im Wohnzimmer, zitterte ich noch mehr, als ich es ohnehin schon tat. Es schüttete wie aus Eimern und der Regen prasste laut gegen die Scheiben, während ein Sturm sein Unwesen trieb - richtiges Aprilwetter in Hamburg. Ich fragte mich, was Jakob wohl gerade tat. Ob er wohl auch zusammengekauert auf dem Sofa saß und dem Spektakel da draußen zusah? Vielleicht redete er auch gerade mit Niels und Nicci über unsere Situation, die eigentlich gar keine Situation mehr war.
Seufzend rieb ich mir übers verheulte Gesicht, als die Klingel ertönte. Der Pizzabote könnte es nicht sein - dafür war es noch zu früh. Ich weigerte mich vor Gesellschaft und zog die mich umhüllende Wolldecke bis unters Kinn, als es ein zweites Mal klingelte. Erst beim dritten Schellen, stand ich lustlos auf und schleppte mich trotzig zur Tür, welche ich mürrisch öffnete. Niels stand mit ernstem Gesichtsausdruck vor mir und ich stellte mich auf eine ordentliche Standpauke ein. Ich hatte es verdient, von ihm angeschrien zu werden, nachdem ich Jakob - einen seiner besten Freunde - so verletzt hatte. Ich senkte bereits beschämt den Blick, als Niels sich plötzlich an mir vorbei in die Wohnung schob und sanft gegen meinen Oberarm boxte: "Das schlechte Gewissen geschieht dir ganz recht", kommentierte er sein Handeln, jedoch hörte ich gewissen Sarkasmus in seiner Stimme, was mich nur verwirrte. "Einfach nicht auf meiner Geburtstagsparty zu erscheinen und mir nicht einmal zu gratulieren, ist nicht die feine englische Art - und dafür gibt es auch keine Ausrede." Scheiße. Niels' gestriger Geburtstag. Ich hatte es total vergessen. Doch wunderte ihn das wirklich? Und warum war er so... normal zu mir? Sicher, Niels war schon immer der loyale von uns, aber er sagte auch seine ehrliche Meinung, wenn ihn etwas nicht passte oder man wirklich Mist gebaut hatte. Und wenn das, was ich Jakob angetan hatte, kein Mist war, wusste ich auch nicht weiter.

Er schlenderte durch ins Wohnzimmer und ließ sich genüsslich seufzend aufs Sofa fallen, beobachtete mich schelmisch grinsend, wie ich mit zittrigen Knien hinterherkam und mich vor ihn stellte, als ob es ihm gefallen würde, mich so bloßzustellen, mich so leiden zu sehen. Mich hinzuhalten, bevor er mir vor Augen führen würde, was für ein gefühlloser Unmensch ich doch sei.
"Also; was habt ihr angestellt, wenn ihr schon nicht zu meiner Party kommt? Oder warte! Will ich das überhaupt wissen?", quasselte Niels plötzlich drauf los. "Dass ihr nach dem heftigen Streit erstmal Zweisamkeit braucht und euch ein paar Tage nirgends meldet, kann ich ja noch verstehen. Irgendwie. Wobei es nur lächerliche fünf Tage waren, die ihr euch nicht gesehen habt, aber na gut, ihr seid noch nie so lange voneinander getrennt gewesen - schon irgendwie krank, wenn man mal so darüber nachdenkt. Aber hallo? Euer bester Freund hatte Geburtstag!" Er gestikulierte wild mit seinen Händen, um auf sich selbst zu zeigen und dabei dämlich zu grinsen, während ich vollends verwirrt einfach nur dastand und seinem Redeschwall zu verfolgen versuchte. "Ihr hättet ja ruhig mal den Versöhnungssex für ein paar Stündchen unterbrechen kö-" – "Wovon in aller Welt redest du da?!" Ich fand meine Stimme wieder und unterbrach den Gitarristen forsch. Die angestaute Wut der letzten Tage klomm in mir auf und ich hatte das Bedürfnis, sie 'rauslassen zu müssen. "Wenn du mich fertig machen willst, bitte! Tu es! Ich hab's verdient! Aber stochere nicht so in der Wunde 'rum und komm mir nicht so blöd um die Ecke - auf sowas kann ich getrost verzichten! Also entweder du sagst mir jetzt deine scheiß Meinung, hörst dir meinen Teil der Geschichte an und versuchst irgendwie Verständnis aufzubringen, weil ich gerade verdammt nochmal einen Freund brauche, oder du verpisst dich aus meiner Wohnung!"

Es war für einige Sekunden unerträglich still. Niels starrte mich mit seinen blauen Augen undefinierbar an, während ich mit geballten Fäusten auf irgendeine Reaktion wartete und meinen Atem unter Kontrolle zu bekommen versuchte.
"Alter", murmelte Niels kühl. "Was geht denn bei dir ab?" Und das war der Moment, in dem alle Dämme bei mir brachen. Meine angespannten Muskeln lockerten sich schlagartig - so plötzlich, dass ich mich zusammengesunken auf dem Wohnzimmerboden wiederfand. Niels hatte es nicht verdient, so von mir angeschrien zu werden, ganz egal was für Psychospielchen er mit mir spielen wollte. Ich war einfach nur wütend auf mich selbst und hatte mich - mal wieder - nicht unter Kontrolle. Wenn ich so weitermache, würde ich irgendwann noch ganz alleine dastehen.
"Johannes. Klär mich auf, Mann. Von was hast du da geredet? Ich verstehe überhaupt nichts." Erst jetzt bemerkte ich, dass Niels vor mir hockte. In seinem Blick lag Wut, die allerdings von Sorge und Verwirrung überschattet wurde. Und langsam begann ich, die Puzzleteile zusammenzufügen. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, was gerade bei Jakob und mir los war. Beziehungsweise, was nicht mehr los war.
"Ich dachte, Jakob ist bei dir?", stotterte ich krächzend. Der Gitarrist runzelte die Stirn und packte mich unsanft an den Schultern: "Wieso sollte er? Habt ihr euch wieder gestritten?" - "Wieso wieder? Wir haben uns doch gar nicht erst vertragen, wir... Jakob hat Schluss gemacht." Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter; ich hatte es das erste Mal laut ausgesprochen. "Ich dachte ehrlich, er würde bei dir und Nicci sein." Der Blick meines besten Freundes war besorgniserregend und ich spürte die aufkommende Panik in mir drinnen.
"War er auch", erklärte Niels schließlich etwas geistesabwesend. "Bis vorletztem Samstag. Er meinte, ihr habt euch vertragen. Er wollte wieder so schnell wie's geht zu dir, hat sich für die Obhut bedankt und ist dann gegangen. Ich... ich hab' ihn seitdem nicht mehr gesehen."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt