Kapitel 55

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Nach den ersten zwei Stunden Busfahrt, stieg die Laune nach und nach wieder etwas an. Die Vorfreude auf die Tournee überwog nun doch den Abschiedsschmerz der anderen, die ihre Freundinnen in Hamburg zurückgelassen hatten.

"Hey, eins müssen wir noch klarstellen!", ermahnte Kris Johannes und mich mit erhobenem Zeigefinger, als wir gerade das Thema Bettenverteilung abgeschlossen hatten - wobei es seit unserer allerersten Tour immer gleich blieb; Kris kriegt die Koje oben links, ich unter ihm, Johannes die Koje oben rechts und Niels direkt darunter. Chris und Arne müssten sich also noch mit Sascha bei den verbliebenen Kojen um die besten Plätze streiten, obwohl es eigentlich nie die perfekte Koje gab - immerhin befanden wir uns in einem Bus, der die ganze Nacht unterwegs sein würde. "Ihr erinnert euch an die Kein Sex im Tourbus Regel? Die galt damals eigentlich für Groupies, aber ich hoffe, euch ist bewusst, dass auch zwei Bandmitglieder miteinander es nicht hier drinnen treiben sollten - außer, ihr wollt zur nächsten Stadt laufen." - "Du bist doch nur neidisch, weil du über zwei Wochen auf Steffi verzichten musst", lachte ich, weshalb Kris nur mit den Augen rollte, die Arme verschränke und Arne für ihn weitersprach: "Wir haben alle ein Auge auf euch." Schmunzelnd lehnte er sich zu mir 'rüber und boxte mir gegen den Oberarm, während die anderen sich zusammenrissen, nicht laut loszulachen, und Johannes' und meine Wangen sich leicht rosa färbten.

"Ist das E-Werk heute ausverkauft?", fragte Niels Sascha, der sich wenige Minuten später nach seinem hundertsten Telefonat zu uns setzte. Er sah jetzt schon gestresst aus und musste einen kurzen Moment nachdenken. "Soweit ich weiß, schon. Wir werden es ja sehen." Er scrollte kurz in seinem Handy rum und schaute dann wieder in die Runde. "Ihr habt direkt nach eurer Ankunft ein Interview, danach Soundcheck, kurze Pause, nächstes Interview und dann habt ihr eine Stunde Zeit, bis der Voract auftritt." - "Geht ja schon gut los", murmelte Kris stöhnend und ließ sich in seinen Sitz sinken. "Das kannst du laut sagen. Johannes, Jakob? Habt ihr 'ne Sekunde?", richtete sich Sascha an uns. Ich wechselte einen kurzen Blick mit Johannes, in dessen Armen ich mich immer noch befand und eben auch noch ein wenig geschlafen hatte, ehe wir beide nickten und unserem Manager und Freund in den unteren Teil des Busses folgten, an dessen Ende sich eine etwas größere Sitzecke mit einem kleinen Tisch in der Mitte befand. Wir ließen uns auf die bequemen Polster nieder und Sascha stützte sich mit dem Ellenbogen auf der Lehne hinter sich ab.

"Was gibt's?" Er rieb sich die Augen und atmete hörbar aus. Dass das hier kein angenehmes Gespräch werden würde, war klar und deutlich zu spüren. "Wie verfahren wir mit euch beiden, hm?" Wir wussten sofort, was er meinte - unser Outing bzw. ob es überhaupt eins geben sollte. "Ja, darüber wollten wir auch noch mit dir reden", seufzte Johannes und strich mir dabei über meinen Rücken. "Was denkst du?" - "Ich weiß, dass ihr zwei bisher schon genug durchgestanden habt, was eure Beziehung angeht, und darauf nehme ich natürlich Rücksicht. Ein öffentliches Outing würde ganz sicherlich auch kein Kinderspiel werden. Ihr solltet euch den Risiken bewusst sein und eure Optionen kennen, bevor ihr euch entscheidet. Ihr sollt nur wissen, dass ich euch zur Seite stehe; ganz egal, wie ihr handeln wollt. Dazu müssen wir uns nur vorher absprechen." Ein warmes Lächeln zierte das Gesicht unseres geschätzten Freundes, der uns mal wieder bewies, was für einen Glücksgriff wir mit ihm als Manager hatten. Es ging ihm nicht nur darum, den größten Gewinn aus jeder Situation zu schlagen - er war stets auf unser Wohl und darauf bedacht, uns in wichtigen Entscheidungen mitbestimmen zu lassen. In diesem - zugegebenermaßen recht schwierigem - Fall überließ er uns die Entscheidung sogar komplett und versprach uns, uns zu unterstützen. Ich lugte zu Johannes 'rüber, dem wohl gerade genau das gleiche durch den Kopf ging.

"Also, ich...", begann ich zögerlich. "Ich würde es schon ganz gerne offiziell machen. Ich will mich nicht verstecken müssen und die wichtigsten Personen haben es bereits durch uns persönlich erfahren..." Johannes schien noch einen kurzen Augenblick zu überlegen. Sein Blick war starr auf den Tisch vor uns gerichtet und mit jeder weiteren Sekunde wurde ich nervöser. Ich hatte Angst, er würde einen Rückzieher machen, nachdem wir vor einiger Zeit mal darüber gesprochen hatten, dass wir beide gerne mit unserer Beziehung in die Öffentlichkeit gehen würden. Das war allerdings vor der Eskapade mit meinem Bruder.
Schließlich nahm ich im Augenwinkel ein Nicken wahr. "Ja, ich sehe das genauso, wie Jay. Wir leben im 21. Jahrhundert - die Leute sollen ruhig erfahren, dass wir ein Paar sind." Augenblicklich breitete sich ein Grinsen auf meinem Gesicht aus, welches Johannes sofort erwiderte und anschließend nach meiner Hand griff, um seine Finger mit meinen zu verschränken. Sascha nickte und ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Züge.
Wir sprachen noch kurz darüber, wie wir es bekannt machen wollten. In einem Interview zunächst über das GQ-Shooting zu sprechen und dann langsam das Thema einzuschlagen, schien uns die unkomplizierteste Idee - gerade, da sicherlich viele Reporter uns auf die Kampagne ansprechen würden. Dennoch wollten wir zunächst einmal auch mit Kris und Niels reden und gemeinsam entscheiden, wann wir unsere Beziehung preisgeben würden, weshalb Sascha versprach, vor den einzelnen Interviews dafür Sorge zu tragen, dass keine Fragen zu unserer Teilnahme am Shooting kommen würde. Als Begründung wollte er behaupten, dass in Kürze ein ausführliches Interview zu diesem Thema käme und wir uns anschließend für weitere Fragen zu Verfügung stellen würden. Mit dieser Strategie gaben wir drei uns zufrieden und Johannes und ich wollten mit den anderen beiden darüber sprechen, wenn wir bereit dazu wären.

"Danke, Sascha. Du weißt gar nicht, wie sehr wir deine Unterstützung schätzen." Ein weiteres Lächeln schlich sich auf Saschas Züge: "Ich kann euch doch nicht im Stich lassen."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt