Kapitel 73

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Ich konnte nicht sagen, wann ich das letzte Mal so schlecht geschlafen hatte wie in dieser Nacht; ganz abgesehen davon, dass sich die Zeit, in der meine Augen geschlossen waren, wirklich in Grenzen gehalten hatte. Ich wälzte mich einfach nur auf dem Sofa hin und her und starrte in die Dunkelheit, während ich gedämpft immer noch die Geräusche aus der Toilettenkabine zu hören glaubte, als würde es nur ein Zimmer weiter stattfinden. Immer und immer wieder versuchte ich, mir irgendeine schwachsinnige Geschichte auszudenken, was wirklich in der Kneipe passiert ist, doch nur, um immer wieder und unumgänglich zu der bitteren Erkenntnis zu erlangen, dass Johannes mit dieser Frau geschlafen hatte. Ich wusste nicht, ob ich überhaupt von "Betrug" reden konnte - immerhin hatten wir seit dem Streit und meinem Abgang vor einigen Tagen kein einziges Wort mehr gewechselt -, aber es schmerzte trotzdem. Es fühlte sich so an, als würde mir bei vollem Bewusstsein der Oberkörper aufgeschnitten werden, nur um mein Herz brutal rauszureißen. Das einzige, was dagegen sprach, war dieses stetige Hämmern gegen meine Brust.
Dass es ausgerechnet eine Frau war, mit der Johannes es getrieben hatte, schien mir gar nicht so relevant; mir war im Hinterkopf natürlich schon immer bewusst gewesen, dass Johannes wohl eher bi, anstatt schwul war. Immer, wenn ich genauer darüber nachgedacht hatte, fiel mir auf, dass er auch hin und wieder noch Frauen hinterher sah - auch wenn ihm selbst das wahrscheinlich gar nicht so bewusst gewesen ist. Es hatte mich wirklich nie gestört - es war mir schlicht und ergreifend egal. Ich hatte mich nie weiter großartig damit beschäftigt, da ich erstens kein wirklich eifersüchtiger Mensch war und zweitens für mich lediglich zählte, welche Person Johannes liebt und nicht welches Geschlecht bzw. welche Geschlechter. Und ich war nun mal diese Person.
Wäre Jo einem Mann auf die Toilette gefolgt, hätte mich das genauso getroffen.

Irgendwann gab ich die Hoffnung auf Schlaf auf, zwang mich in eine von Niels' Joggingshosen und eines seiner Shirts, ehe ich leise die Wohnung verließ. Mit tiefen, dunklen Augenringe schleppte ich mich kraftlos in die Richtung von Jos und meiner Wohnung - wir mussten reden. Nach gestern Abend wahrscheinlich dringender als je zuvor. Mit jedem Meter weniger zwischen mir und Johannes bahnte sich ein erdrückenderes Gefühl in mir aus und es kostete mich eine Menge Überwindung, den Wohnungsschlüssel aus meiner Jackentasche zu fischen, ihn ins passende Schlüsselloch zu stecken und umzudrehen. Noch schwieriger war für mich allerdings der erste Schritt in die Wohnung und der erste Atemzug, mit dem mir der so vertraute Geruch in die Nase stieg.
Johannes war noch nicht wach, was um acht Uhr morgens allerdings auch kein Wunder war - keine Ahnung, wann er letzte Nacht zuhause war. Ich schlich vorsichtig zu unserem Schlafzimmer, öffnete die Tür einen Spalt und lugte zum Bett, in dem Johannes leise vor sich hin schnarchte. Sein Anblick versetzte mir einen Stich und gleichzeitig hatte ich das Verlangen, mich einfach zu ihm zu legen, als wären die vergangenen Tage nie passiert. Doch mein Entschluss, den ich letzte Nacht gefällt hatte, stand fest und ich würde nicht davon abkommen.

"Johannes", sagte ich mit ruhigem, aber bestimmten Tonfall. Er rührte sich nicht und so wiederholte ich seinen Namen ein weiteres Mal, nur etwas lauter. Mürrisch blinzelte er ein paar mal, bevor er die Augen aufschlug und sich erschrak, als er mich entdeckte: "Jay!" Er setzte sich auf und blickte mich verwirrt an: "Was machst du hier?" Etwas Erleichterung schwang in seiner Stimme mit und das Glitzern in seinen Augen war so wunderschön und hoffnungsvoll, dass ich wegschauen musste. Doch gleichzeitig wurde ich wütend; er ließ sich überhaupt nicht anmerken, dass er letzte Nacht in irgendeiner Hinsicht fremdgegangen war. "Wir müssen reden", sagte ich also nur, aber das kleine Lächeln auf Johannes' Lippen blieb bestehen. Wahrscheinlich war er einfach nur froh, mich zu sehen. "Balkon", meinte ich noch kurz, bevor ich ins Wohnzimmer verschwand und von dort aus auf unseren kleinen Balkon trat.

Es dauerte vielleicht eine Minute, bis Jo mir gefolgt kam und sich in mein Sichtfeld stellte. Unsicher starrte er mich einfach nur einige Sekunden lang an, bevor er ganz zaghaft nach meinen Händen griff: "Gott, Jay, ich bin so froh, dass du da bist." Ich erwiderte daraufhin erstmal nichts, stattdessen starrte ich auf unsere verschränkten Finger und schluckte den riesigen Kloß in meinem Hals hinunter. Ich hatte in den letzten Stunden nicht ein einziges Mal weinen müssen und ich würde auch jetzt stark bleiben, weshalb ich meine Augen zusammenkniff.
Zögerlich ließ Johannes mich wieder los und das nächste, was ich wahrnahm, war seine eine Hand, die sich an meinem Hinterkopf in meinen Haaren vergrub. Nur wenige Sekunden später, spürte ich seine Lippen, die meine zunächst zaghaft streiften und, als ich mich nicht wehrte, sich fordernd auf meine pressten.
Ich ließ es zu, bewegte meine Lippen synchron zu denen von Johannes und ließ ihn seine Zunge in meinen Mund schmuggeln. Ich versuchte, dieses Gefühl noch ein letztes Mal in mich aufzusaugen,
wenn er mich küsste; dieses Feuerwerk in meinem Bauch, das Knistern auf meinen Lippen, die Gänsehaut auf meinem Körper, das Verlangen nach mehr. Ich wollte es so intensiv spüren, dass ich es nie vergessen würde.

Niemals, nach diesem letzen leidenschaftlichen Kuss.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt