Kapitel 74

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Schweren Herzens presste ich dann schließlich doch meinen Kiefer aufeinander und entfernte mich ein Stück weit von Johannes, aber nur so viel, dass ich immer noch seinen warmen schweren Atem auf meinen Lippen spürte. Ich kniff meine Augen noch fester zusammen und speicherte den vergangenen Moment in der Tiefe meines Gedächtnisses.
"Wow, das..." Er unterbrach sein Hauchen selbst. Für diesen Kuss gab es keine Beschreibung. Keine Worte, die diese Gefühle dabei auch nur ansatzweise wiedergeben könnten. Dieser Kuss war überwältigender, als alle anderen Küsse - ganz anders. Ich öffnete meine Augen und gewährte Johannes Einblick in das, was in mir drinnen vorging. Sein Blick veränderte sich schlagartig und er schien zu verstehen, was das alles hier zu bedeuten hatte - Wieso ich nach all den Tagen mit so ernster Miene auftauchte und dann doch zuließ, dass wir uns so küssten;

Abschied.

"Jay", flüsterte er und klang dabei flehender und verzweifelter, als je zuvor - als würde er mich abhalten wollen. "Nein, lass es", bat ich ihn und senkte meinen Blick erneut, während ich einen Schritt zurücktrat. "Dieser Kuss gerade... du hast es doch selbst gespürt! Wir können nicht ohne einander!" Kopfschüttelnd ging ich zurück in die Wohnung und ließ mich auf unser Sofa sinken, stützte meine Ellenbogen auf meine Knie und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Niels' Worte hallten in meinem Kopf wie ein Mantra: Du hängst halt sehr an ihm.
Und er hatte Recht; ich hing viel zu sehr an Johannes, konnte wahrscheinlich wirklich kaum mehr ohne ihn leben, doch war das so richtig? Von etwas abhängig zu sein, das dich immer wieder verletzt und dich damit jedes mal zurück in ein Tief stößt? Und gestern hatte er es endgültig übertrieben. Unter anderen Umständen wäre ich vielleicht sogar allen Ernstes bei ihm geblieben. Hätte ihm den Seitensprung verziehen. Aber nicht nach der vergangenen Zeit, die so schwierig war, dass Jo scheinbar gar keinen Sinn mehr in unserer Beziehung sah; erst macht er aus Versehen Schluss und dann versteht er meine Worte "Vielleicht sollten wir beide alles nochmal überdenken" scheinbar so, dass er mit einer Frau schlafen soll.

Seufzend fuhr ich mir durch die Haare und entdeckte einen verzweifelten Johannes circa zwei Meter vor mir stehen, der auf eine Erklärung wartete - woher sollte er auch wissen?
"Es geht nicht mehr, Jo! Ich ertrag das alles nicht mehr, hörst du?" - "Du hast doch selbst gesagt, dass schlechte Phasen zu Beziehungen dazugehören! Verdammt, du liebst mich! Und ich liebe dich, sollte das nicht rei..." - "Ach ja?!", unterbrach ich Johannes forsch, welcher hilflos versuchte, unsere Beziehung zu retten, nachdem er sie mit Füßen getreten hatte. "Und warum vögelst du dann mit einer Frau in dieser versifften Kneipe?" Jos Gesicht färbte sich kreidebleich, während er mich ungläubig anstarrte und irgendetwas vor sich hin stammelte. "Du hättest es mir nicht mal gesagt, stimmt's?" Mein Geschrei hatte sich in ein gebrochenes Flüstern gewandelt, das so kläglich klang, wie ich mich fühlte. "Du hättest einfach so getan, als wäre nichts passiert. Du hättest mich angelogen. Zu deinem Vorteil hättest du mich für dumm verkauft. Aber ich hab' euch gesehen. Und später dann genug gehört, um mir vorzustellen, was da gelaufen ist." Johannes ließ sich stumm auf die andere Seite des Sofas fallen und fuhr sich nervös durch die Haare. "Waren da noch mehr? Irgendwann im Laufe unserer Beziehung?" - "Was?! Nein! Jakob, wirklich nicht! Das musst du mir glauben." - "Das muss ich ganz bestimmt nicht mehr", fauchte ich, sprang auf und stürmte in unser Schlafzimmer, kramte eine große Reisetasche hervor und begann, diese zu packen.

Johannes folgte mir, hatte jedoch immer noch nichts zu seiner Verteidigung zu sagen. Er stand einfach nur im Türrahmen, während sein Blick an meinen Händen haftete, die nach und nach meine Seite des Kleiderschrankes größtenteils leer räumten. "Bitte geh nicht", flüsterte Jo dann irgendwann und ich stoppte das Packen, um ihn anzusehen.
"Bitte. Verlass mich nicht." Verachtend schnaufte ich und schüttelte ungläubig über diese lächerliche Bitte den Kopf. "Es hatte nichts zu bedeuten..." - "Für mich ist es aber von Bedeutung, wenn du es mit jemand anderem treibst!" - "Ich wusste doch selbst nicht, was ich da tat, und als ich es irgendwann mal verstanden habe, war es zu spät und ich hab' sie nicht mehr angefasst! Ich war nunmal so verzweifelt, weil du einfach gegangen bist und ich habe es einfach in Alkohol ertränkt und dann..." Er unterbrach sich selbst und fuhr sich mit seiner flachen Hand durchs Gesicht. Er sah auf einmal noch viel müder und erschöpfter aus, als zuvor. Aber ich wollte mir allein nicht voll und ganz die Schuld geben. Er hatte für einen kurzen Moment Schluss machen wollen und dass ich daraufhin meinen Kopf frei kriegen wollte, war doch verständlich. Oder etwa nicht?

"Ist es, weil es eine Frau war?" Schnaubend packte ich die letzten wichtigen Sachen in die riesige Reisetasche, hievte diese schließlich vom Bett und stellte mich direkt vor Johannes: "Denkst du ernsthaft, wenn du mit einem Mann geschlafen hättest, wäre es okay für mich? Nein. Ich hatte einfach nur geglaubt, dass du nicht mehr dieses Arschloch von früher bist. Und dass ich der Grund dafür wäre. Aber ich habe mich wohl getäuscht."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt