Kapitel 48

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Das Frühstück mit meinen Eltern verlief größtenteils schweigend. Eine unangenehme Anspannung lag in der Luft, sodass man sie schon fast greifen konnte. Mama starrte die meiste Zeit auf Johannes' blaues Auge und seine demolierte Nase, was keinem entging und die ganze Situation einfach noch unaushaltbarer machte. Mit einem lauten Räuspern unterbrach Papa endlich die unerträgliche Stille: "Möchtest du darüber reden, was im Streit mit Lukas alles gesagt wurde?" Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit und meine Mutter wandte nun endlich ihren Blick von Johannes' Gesicht, um sich auf mich zu konzentrieren. Ich zuckte mit den Schultern und rührte mit einem Löffel gedankenverloren in meinen Kaffee herum: "Für ihn bin ich krank, unnormal und er will nichts mehr mit mir zu tun haben. Das fasst es eigentlich ganz gut zusammen", murmelte ich und wunderte mich schon fast selbst, dass mir nicht einmal Tränen in die Augen schossen und ich überraschenderweise sehr gefasst war. "Wir verstehen das nicht, Jakob. Das war ganz bestimmt nicht unsere Erziehung und dass er dann auch noch so auf dich losgegangen ist, Johannes, tut uns schrecklich leid. Wir dachten, sowas hätte er hinter sich", schluchzte meine Mutter und wurde daraufhin von Papa in seine Arme gezogen. Es brach mir das Herz, zu sehen, wie meine gesamte Familie von der Sache be- und getroffen war, doch immer noch kamen keine Tränen. Es fühlte sich leer in mir drinnen an und Johannes musterte skeptisch mein Gesicht, schwieg allerdings. Wahrscheinlich war auch er verwundet, dass ich so tough war.

"Ich werde heute noch zu ihm fahren. Wenn er keine vernünftige Erklärung für sein Verhalten hat, dann weiß ich nicht, ob ich ihn hier noch einmal haben will. Seinem eigenen Bruder so etwas zu sagen und dann so gewalttätig werden..." - "Was wäre deiner Meinung nach denn eine vernünftige Erklärung, hm?", fuhr ich meinen Papa an, der es doch nur gut gemeint hatte. "Er hasst halt Schwule, also hasst er nun einmal auch mich. Ich habe ihn enttäuscht, weil ich auf einen Mann stehe. Und dementsprechend habe ich ihn auch dazu gebracht, nach über 20 Jahren seine Selbstbeherrschung zu verlieren. Das war's." Wütend stand ich auf und stürmte ins Bad, wo ich die Tür abschloss und mich direkt im Anschluss an ihr heruntergleiten ließ. Worauf genau ich wütend war, wusste ich selbst nicht. Auf Lukas natürlich; ganz klar. Und vielleicht war ich auch auf meinen Vater wütend, weil er wirklich glaubt, dass Lukas sich rechtfertigen könnte, sodass alles wieder geklärt sei, obwohl es doch offensichtlich war, dass nichts mehr werden würde, wie früher. Auf mich, weil ich nicht zwischen Lukas und Johannes gegangen bin und einfach mit angesehen habe, wie mein Freund zusammengeschlagen wurde. Und weil ich - erneut - für Stress gesorgt habe. Da war er wieder; der Selbsthass, der sich immer weiter in mich hineinfraß. Dennoch musste ich ausnahmsweise nicht weinen; ich saß lediglich auf dem Badezimmerboden, mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, die Knie angezogen und die Ellenbogen darauf gestützt, während meine Hände in meinen Haaren vergruben waren und daran zerrten, als ob dieser Schmerz den in mir drin überschatten könnte. Ich starrte lediglich geradeaus und hing meinen Gedanken hinterher.

Ein Klopfen an die Badezimmertür ließ mich aufschrecken: "Jay? Hey, lass mich rein", bat Johannes mich mit ruhiger Stimme. Ich zögerte kurz, doch dann stand ich auf, drehte den Schlüssel im Schloss und drückte die Türklinke runter.
"Wollen wir los?", fragte ich direkt, ohne Johannes zu Wort kommen zu lassen. "Zur Probe? Bist du dir sicher?" Er legte den Kopf zur Seite und runzelte die Stirn, während seine dunklen Augen zwischen meinen Hellen hin und her schweiften. "Die Tour beginnt bald, wir müssen uns ranhalten. Einiges klingt noch längst nicht so gut, wie es sollte. Und Ablenkung ist es allemal." Ich drückte mich an ihm vorbei und steuerte auf mein Zimmer zu, doch da hielt er mich am Handgelenk fest und zog mich zu sich: "Jay..." Er klang sowohl besorgt, als auch ernst und ich wich seinem durchbohrendem Blick aus. "Nichts von dem, was gestern Abend geschehen ist, ist deine Schuld. Wenn du auf Männer stehst, ist das deine Sache und ganz bestimmt nicht 'krank'. Dein Bruder akzeptiert das nicht und ich weiß, wie sehr es dich verletzt, aber versprich mir, dass du seinen Worten keinen Glauben schenkst. Du bist gut so, wie du bist", hauchte Johannes und ich zuckte mit den Schultern. So sehr ich ihm glauben wollte; es fiel mir schwer. Lukas' Worte hatten gesessen und mich in meinem Hass gegen mich selbst bestätigt.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt