Kapitel 12

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Der Kuss wurde immer dringender, immer intensiver und unser beider Atem immer flacher. Johannes biss mir hin und wieder sanft auf die Unterlippe - ich hatte ihm irgendwann mal, als wir betrunken waren, erzählt, dass ich das beim küssen mochte. Er machte es mir damit verdammt schwer, ihm nicht einfach sein Shirt ausziehen zu wollen. Als er dann seine eine Hand in meinen Haaren vergrub und mit der anderen an meiner Hüfte eine Gänsehaut erzeugte, konnte ich nicht anders und zog ihm sein T-Shirt über den Kopf, wofür wir den Kuss unterbrechen mussten und was Johannes scheinbar reichte, um wieder klar im Kopf zu werden: "Jay", flüsterte er etwas außer Atem und lehnte seine Stirn gegen meine. Es war vorbei und das wurde mir bewusst, als ich in seine Augen sah; ich wollte zu viel.
"Ich...es...es tut mir leid." Er schüttelte mit dem Kopf; sein Brustkorb hob und senkte sich immer noch schneller als gewöhnlich. "Es muss dir nicht leidtun." Ich spürte, wie er mit seinem Daumen über meine Unterlippe fuhr und wie er sich selbst beherrschen musste. Er atmete schwer aus, ließ mich schließlich los und zog sich sein Shirt wieder an: "Wir sollten schlafen", murmelte er und legte sich einfach wieder hin. Ich saß noch eine Weile da, starrte Johannes durch die Tränen in meinen Augen an und ohrfeigte mich innerlich selbst.
Ich konnte jetzt nicht einfach neben ihm einschlafen und so tun, als wäre das eben nicht zwischen uns passiert. Ich schnappte mir also meine Decke und schlich ins Wohnzimmer, wo ich mich auf das Sofa legte und mich dort hin und her wälzte. Der Kuss brannte immer noch auf meinen Lippen und ich schmeckte noch lange den Mix aus den sämtlichen alkoholischen Getränken, die Johannes intus hatte.

"Du hast im Wohnzimmer geschlafen?" Johannes' Stimme riss mich aus meinem festen und dennoch unruhigen Schlaf. Er selbst stand mit zerzausten Haaren und dunklen Schatten unter den Augen in der Tür. Ich zuckte mit den Schultern und Johannes atmete schwer aus: "Auch 'ne Aspirin?" Ich verneinte, er verschwand kurz in meine Küche und kam kurz darauf zurück zu mir ins Wohnzimmer - in der einen Hand ein Glas Wasser, in der anderen eine Tablette. Er ließ sich mit etwas Abstand aufs Sofa fallen, spülte die Aspirin runter und starrte schließlich mit mir um die Wette auf den Boden. Die Anspannung, die in der Luft lag, konnte man praktisch greifen.
"Sollten wir reden?", fragte ich irgendwann mit gebrochener Stimme. Im nächsten Moment hätte ich mich dafür ohrfeigen können; ich wollte nicht mit Johannes reden. Ich hatte Angst vor dem, was er sagen würde. Aber noch mehr hatte ich Angst vor den Fragen, die er mir stellen würde. "Ja, vielleicht sollten wir das." Er musterte nervös mein Gesicht; wahrscheinlich war er genauso unsicher, wie ich.
"Kannst du dich an alles erinnern?", kam ich ihm zuvor, als er gerade zum Reden ausholen wollte. Seine dunklen Augen sahen mich eindringlich an, ehe er nickte und ich mich mit meinen Fingern an meiner Decke festkrallte.
"Kann ich dich zuerst fragen, was das beim Shooting zu bedeuten hatte? Ich meine, wir haben doch gesagt: 'Filmkuss'." Mein Herzschlag verdreifachte sich; aber nicht dieses angenehme, verliebte Verdreifachen - nein, das nervöse, ängstliche Verdreifachen. War Johannes wirklichen so schwer von Begriff oder wollte er einfach nicht verstehen, dass ich was für ihn empfand und meine Gefühle beim Shooting die Überhand gewonnen hatten. Doch mir sollte es nur recht sein; so wurde die Situation nicht noch unangenehmer, als sie es ohnehin schon war, und ich spielte mit. Ich zuckte mit den Schultern und bemühte mich, möglichst gelassen zu klingen: "Keine Ahnung, hab das mit dem experimentieren und leidenschaftlich wohl so verstanden." - "Also hatte das nichts zu bedeuten?", hakte Johannes nach. Ich schluckte, schüttelte aber mehr oder weniger selbstsicher mit dem Kopf und sah plötzlich etwas verletztes - vielleicht sogar Enttäuschung - in Johannes' Augen.

"Und das gestern Abend?", fragte ich. Schließlich war Johannes es, der mich um den Kuss gebeten hatte. "Ich war betrunken; da spinnt man manchmal rum. Solltest du doch wissen - ich meine...du hättest mir nüchtern doch auch nicht mein Shirt ausgezogen, oder?"
Dachte er wirklich, dass ich von einem Glas Wodka-Energy so betrunken war, dass ich alle Hemmungen verloren hatte? Er konnte sich vielleicht an alles erinnern, aber sein ausnüchterndes Gehirn, hatte die Wahrheit verdreht.
"Nein, natürlich nicht", sagte ich und versuchte dabei, möglichst überzeugend zu klingen. Wir wichen den Blicken des jeweils anderen aus.
Im Augenwinkel sah ich, wie sich Johannes' Gesichtsausdruck schlagartig änderte. Vorher sah er unsicher, nervös und teilweise verletzt aus, doch jetzt wirkte er ernst, in gewisser Weise sauer und bedrohlich: "Hör zu, Jakob. Das hat letzte Nacht nicht stattgefunden, ok? Das ist nicht passiert und wir werden da nie wieder ein Wort drüber verlieren - weder unter uns, noch bei anderen. Haben wir uns verstanden?" Jakob. Wann hatte er mich zuletzt so genannt? Er sah mich an, wie vor zehn Jahren. So herablassend, wie bei unserer ersten Begegnung. Und ich fühlte mich genauso schwach, wie damals. Ich nickte stumm.

Wortlos stand Johannes auf und ging in mein Schlafzimmer, das er nach ein paar Minuten - in denen ich einfach nur vor mich hin starrte - mit seinen Klamotten vom Vorabend am Leib verließ. "Frohe Weihnachten", sagte er halbherzig und schnappte sich seine Jacke, ehe er mit einem Türknall meine Wohnung verließ.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt