Kapitel 95

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"Ich würde dich gerne küssen, Jay."

Die darauffolgenden Sekunden zogen sich wie ein zähes Kaugummi in die Länge.
Während ich Johannes ungläubig über seine gesagten Worte anstarrte und spürte, wie mein Herzschlag sich deutlich beschleunigte, schien mein Gegenüber selbst zu begreifen, was ihm da gerade hinausgerutscht war. Ihm wich jegliche Farbe aus seinem Gesicht, seine Lippen und sein Kinn zitterten, als ob er irgendwas sagen wollte, aber nicht wusste, was.
Ich war unfähig zu reagieren, mich zu bewegen, zu denken. Unfähig zu atmen.

"Scheiße. Vergiss das", murmelte Johannes hastig entschuldigend und rückte wahrscheinlich unbeabsichtigt ein Stück weit von mir weg. Ein kurzer Schmerz zog durch meine linke Brust, doch ich nickte einfach kurz und versuchte, mir dieses seltsame Gefühl nicht anmerken zu lassen, das durch meine Blutbahn eilte und von dem ich nicht gedacht hätte, dass ich es tatsächlich in so einer Situation verspüren würde; das Gefühl von Enttäuschung.
Johannes strich mit seinen Handinnenflächen über den Stoff seiner Jeanshose und mied plötzlich jeglichen Augenkontakt mit mir, während ich meinen Blick immer noch nicht von ihm nehmen wollte, geschweige denn konnte. Ich wollte herausfinden, was gerade in seinem Kopf vorging, doch es fiel mir plötzlich unglaublich schwer, ihn zu lesen, was normalerweise immer eine meiner leichtesten Übungen gewesen ist. Jetzt war es aber schier unmöglich für mich.

"Tut mir leid", begann Jo nochmal neu, wobei er nebenher seine Gitarre stimmte, um mich nicht ansehen zu müssen. Man hörte den Scham, die Angst und die Reue aus seiner Stimme heraus. "Wir reden da nicht drüber und vergessen es einfach, ok? Ich... Ich spiel' dir einfach die nächste Idee vor." - "O-okay", stotterte ich unsicher und leise, obwohl ich wusste, dass wir beide dieses "Ich würde dich gerne küssen, Jay" nicht einfach vergessen könnten, und obwohl ich in irgendeiner Hinsicht gerne darüber geredet hätte. In anderer Hinsicht allerdings auch nicht.

Ohne nochmal aufzuschauen, begann Johannes schließlich die nächste mögliche Variante für ein Solo zu spielen. Doch anders als eben, mochte mir einfach keine passende Begleitung dafür einfallen, was eventuell auch daran lag, dass ich mich erstens gar nicht wirklich auf Jos Gitarrenspiel konzentrieren konnte und stattdessen nur in sein angespanntes Gesicht starrte, und Johannes sich zweitens ständig verspielte und neu ansetzen musste. Ich konnte beobachten, wie die ersten Schweißperlen auf seine Stirn traten, seine Nervosität stieg und die Situation immer unerträglicher für ihn wurde. Auch ich spürte wieder die Anspannung in mir drinnen und wäre am liebsten auf der Stelle aus dem Raum gestürmt, um diesem Gefühl von Unwohlsein zu entfliehen, nachdem vor ein paar Minuten alles noch so perfekt war.
Obwohl ich vor zwei Wochen noch die allererste Probe unterbrechen musste, weil ich Johannes' Nähe nicht ertragen hatte, hatte es sich eben plötzlich so richtig angefühlt, mit ihm allein im Studio zu sein, ihm so nah zu sein, mit ihm zusammen in der Musik aufzuleben. Und jetzt quälten wir uns beide mit der Anwesenheit des jeweils anderen - doch niemand wollte es zugeben.

Ich bekam nicht mal richtig mit, wie Johannes es irgendwann aufgab und seine Gitarre beiseite legte. Er stützte seine Ellenbogen auf seine Knie und starrte emotionslos vor sich hin; mein Blick klebte immer noch an ihm, während meine Gedanken meilenweit entfernt schienen.

"Ich... Ich wollt's nicht kaputt machen. Nicht schon wieder", nuschelte er. Ich wusste nicht, wie viel Sekunden oder Minuten bis dahin verstrichen waren. "Es mir einfach 'rausgerutscht. Also nicht, dass ich es nicht auch so meinte, aber... Verdammt."
Ich wollte ihm sein schlechtes Gewissen nehmen, doch ich war nicht in der Lage dazu, etwas zu sagen und ihm zu widersprechen. Stattdessen griff ich über den Tisch hinweg nach meiner angebrochenen Bierflasche, führte sie an meine Lippen und legte meinen Kopf in den Nacken, um den Inhalt der Flasche zu leeren. Johannes beobachtete mich dabei bereuend mit seinen Augen, die wieder an Glanz verloren hatten.

Wir verbrachten noch ein wenig Zeit schweigend im Studio und hingen unseren leeren Gedanken nach. Ich wusste weder, was in Johannes vorging, noch konnte ich beschreiben, wie es bei mir selbst aussah.
Irgendwann räusperte ich mich und krächzte heiser: "Ich muss dann auch mal los. Denkst du dran, abzuschließen?"
Er sah schwer schluckend auf und nickte mit gequältem Lächeln im Gesicht. Ich stand vom Cajón auf, stellte dieses wieder auf seinen Platz und zog mir meine Jacke über. Meine Hand lag bereits an der Klinke der schweren Tür, als ich doch nochmal stehen blieb und zu Johannes schaute: "Das erste Solo spielen wir demnächst den Anderen mal vor, oder?" - "Jap", antwortete er kurz angebunden, aber doch entschlossen. Das Solo klang einfach zu gut, um es nicht mit aufs Album zu nehmen.
"Gut. Dann werde ich Zuhause mal schauen, wie ich meinen Part vom Cajón aufs Schlagzeug übertrage." Jo nickte zustimmend und ich atmete zitternd Luft aus, bevor ich dir Tür aufzog, den Raum verließ und jene wieder schloss.

Ich wusste einfach nicht, was mich am meisten beschäftigten sollte;
Die Angst, dass es zwischen Johannes und mir von nun an noch verkrampfter ablaufen würde, als die letzten Male, wenn wir uns begegnet sind.
Die Wut auf mich selbst, weil ich ihm mit seinem schlechten Gewissen alleine ließ und es nicht einmal versuchte hatte, ihm auszureden.
Oder die Frage, was genau Johannes immer noch für mich empfinden musste, dass er so etwas dachte und laut aussprach.

Vielleicht war das alles der Grund, weshalb ich am Abend sturzbetrunken die nächstbeste Schwulenkneipe verließ, die ich direkt nach meinem Flüchten aus dem Studio finden konnte. Ich verließ sie nicht mit einem Mann an meiner Seite, dafür aber mit Johannes in meinem Kopf.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt