Kapitel 52

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Johannes ließ mir die Zeit, die ich benötigte, bevor ich anfing, ihm alles zu erklären. Er lehnte sich nach hinten und sah mich geduldig an. Seufzend fuhr ich mir durch die Haare, drehte mich anschließend zu Johannes und zog die Beine aufs Sofa, um mich in den Schneidersitz zu setzen. Ich öffnete meinen Mund, um irgendetwas zu sagen, doch ich brachte keinen Ton zu Stande. Jo griff vorsichtig nach meiner Hand und drückte sie leicht: "Hey...Du kannst mir alles erzählen; ich höre dir zu. Ok?" Ich nickte und sah auf unsere verschränkten Finger in meinem Schoß. Allein der Anblick von seiner Hand in meiner und dazu auch noch das dazugehörige Gefühl in meinem Körper ließ mich wohl fühlen.

Ich atmete tief ein und begann anschließend, alles rauszulassen. Alles, was sich in letzter Zeit angestaut hatte, floss praktisch aus meinem Mund und mit jedem weiteren Wort spürte ich einen weiteren Stein, der von meinem Herzen fiel. Ich erzählte von meinen Ängsten, die ich schon früher hatte und die sich zu bestätigen schienen, nachdem mein eigener Bruder nach meinem Outing nichts mehr mit mir zu tun haben will. Ich erzählte von diesem Gefühl, das dadurch in mir ausgelöst wurde; diese Leere, die sich in mir breit gemacht hatte. Ich erzählte von meinen Schuldgefühlen, da so viele geliebte Menschen unter meinem Handeln bereits gelitten haben. Ich erzählte von diesem Chaos in meinem Kopf und dieser Sperre, die es mir bis dato unmöglich gemacht hatte, darüber zu reden. Johannes unterbrach mich nicht ein einziges Mal; er hörte mir aufmerksam zu, hatte seinen besorgten Blick auf mich gerichtet und hielt meine Hand immer noch fest in seiner.

Erst, als ich meinen Monolog beendet hatte und eine Träne sich den Weg über meine Wange bahnte, begann Johannes, ganz leicht zu lächeln. "Was?", fragte ich verwirrt, da ich definitiv mit einer anderen Reaktion gerechnet hatte. "Du weinst", meinte er ruhig, legte seine Hand an meine Wange und strich mir die Träne weg. "Und ich dachte schon, du wärst zu einem Möchtegern 'harten Macho' geworden; da steh' ich nämlich überhaupt nicht drauf." Ich lachte kurz auf, wurde im nächsten Moment jedoch von all meinen Emotionen überwältigt, die ich gerade zugelassen hatte und nicht mehr stoppen konnte. Mein Lachen gefror und ich begann, bitterlich zu heulen. Johannes zog mich an sich ran und ich vergrub mein Gesicht an seiner Schulter, wo sich der Stoff seines dünnen Pullovers mit meinen Tränen vollsog. Ich spürte seine große Hand, die mir langsam und immer wieder über meinen Rücken fuhr und mich zusammen mit Jos klarer Stimme, welche mir zuflüsterte, dass er mich liebt, etwas beruhigen konnte.
Irgendwann ließ Johannes sich nach hinten fallen und zog mich mit sich, sodass ich halb auf ihm lag, mein Kopf auf seiner Brust und mein Arm um seinen Oberkörper geschlungen, während seine Hand immer noch über meinen Rücken strich.

"Es tut mir leid", schluchzte ich nach einigen Minuten leise. "Was tut dir leid?" - "Dass ich euch so viele Sorgen bereitet habe. Allgemein und insbesondere in den letzten Tagen. Du hast dein Kind verloren und ich ziehe trotzdem alle Aufmerksamkeit auf mich." Johannes drückte seine Lippen auf meine Haare, legte seine Finger an mein Kinn und zwang mich, ihn anzusehen, als er meinen Kopf zu sich drehte: "Jay..." Er klang verzweifelt und ließ seine Blick zwischen meinen Augen hin und her schweifen. "Ja, das mit dem Baby war hart für mich. Es war keine leichte Zeit, aber meine Freunde und ganz besonders du...ihr habt mir geholfen, darüber hinweg zu kommen. Und jetzt, wo du langsam andere in deinen Kopf blicken lässt, können wir auch dir helfen." Ich zwang mich zu einem Lächeln und rutschte noch ein Stück hoch, um Johannes zu küssen. Zum ersten Mal, seit ein paar Tagen, fühlte es sich wieder richtig und gut an, seine Lippen auf meinen zu spüren. Es war wieder mehr, als bloß Ablenkung.
Der Kuss wurde intensiver und ich ließ meine Hand unter sein Shirt gleiten. Johannes grinste in den Kuss hinein, doch als ich den Saum des Shirts ein Stück weit nach oben zog und parallel weiter auf Johannes rutschte, drückte er mich sanft von sich: "Bei aller Liebe, aber hier habe ich Angst, mir irgendwelche Krankheiten einzufangen." Ich lachte und sah mich im alten Jugendkeller, den wir früher als Proberaum genutzt hatten, um: "Ja, wahrscheinlich hast du Recht", schmunzelte ich und stand umständlich auf, woraufhin Johannes mich verwirrt ansah. "Wo willst du hin?" - "Nach Hause, natürlich. Da ist es sauber", grinste ich und zog Johannes auf die Beine, der nur lachend mit dem Kopf schüttelte: "Du hast es momentan auch nötig, oder?" Ich verpasste ihm eine Kopfnuss, legte meine Hände an seine Hüfte, zog ihn so an mich ran und näherte mich seinem Ohr. "Bald sind wir auf Tour und verbringen die Nächte in einem Tourbus mit ein paar anderen. Wir werden uns zusammenreißen müssen und dementsprechend sollten wir vorarbeiten", flüsterte ich, wobei ich möglichst verführerisch klingen wollte, meine Hände beiläufig an seinen Hintern legte und im Anschluss seinen Hals küsste, weshalb Johannes leise aufkeuchte. Da wir so nah aneinandergepresst waren, bemerkte ich seinen schnellen Herzschlag und hörte seinen flachen Atem, während ich mein Becken gegen seins drückte, was ihn nicht kalt ließ, wie ich spüren konnte. Umso schwerer schien es Johannes zu fallen, als er einen Schritt zurückging: "Du bist schlimm, Jakob, und du weißt ja gar nicht, wie liebend gern ich jetzt schwach werden würde, aber..." Er konnte meinem Blick nicht standhalten und presste seinen Kiefer aufeinander, bevor er tief durchatmete; es war unübersehbar, wie viel Selbstbeherrschung ihm die Situation kostete. "Aber wir sollten einfach nur nach Hause und uns einen schönen Tag machen. Ich möchte sicher gehen, dass es dir wirklich gut geht, bevor du mich vielleicht doch nur verarscht und das alles nur wieder zur Verdrängung dient." Genervt seufzte ich, griff nach meiner Jacke und drückte mich an Johannes vorbei Richtung Ausgang.
"Bist du jetzt etwa sauer?", rief er mir verzweifelt hinterher, während er sich bemühte, mit mir Schritt zu halten. "Nein, aber wenn ich noch eine Sekunde länger deinem liebevollen Geschwafel zuhöre, in deine Augen schaue, deine zerzausten Haare oder deinen Körper allgemein sehe, reiße ich dir die Klamotten vom Leib", murmelte ich frustriert und hörte Johannes daraufhin leise lachen.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt