Kapitel 34

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Ich drückte Johannes fest an mich, während seine Worte in meinem Kopf widerhallten: "Ich wäre Vater geworden." Ich spürte seinen zitternden Atem an meinem Hals, sein bebenden Körper an mich gepresst und seine gesamte Trauer in den klammernden Griff um mich gesteckt.
Ich wusste nicht, was genau er meinte. Was Nicci ihm erzählt hatte und ihn so aus der Bahn warf. Warum Vater? Warum wäre? Und warum wusste Nicci mehr über so etwas Bescheid, als Johannes? Was zur Hölle ist passiert?

"Lass uns nach Hause", murmelte ich. Ich wollte ihn nicht zu Antworten auf meine gefühlt hundert Fragen drängen. Erst Recht nicht nachts bei der Kälte und hier auf offener Straße. Ich spürte ein vorsichtiges Nicken und schlenderte mit Johannes los in die Richtung meiner Wohnung, während ich meinen Arm um seine Mitte geschlungen hatte.

Es war Johannes, der nach circa zwei Kilometern das Schweigen brach: "Anna war schwanger." Ich drehte meinen Kopf zu ihm und entdeckte traurige Leere in seinem Blick, der starr nach vorne gerichtet war. Tränen schimmerten in seinen braunen Augen und ich gab ihm die Zeit, die er brauchte, um weiter zu reden, auch wenn ich am liebsten sofort nachgefragt hätte, was das Wort 'war' in diesem Satz suchte. Doch dies beantwortete er wie von selbst, als könne er meine Gedanken lesen:
"Sie hat das Kind verloren - vor fünf Tagen erst." - "Seit wann...Seit wann wusste sie von ihrer Schwangerschaft?", hakte ich vorsichtig nach. Diese Informationen trafen mich selbst viel zu sehr, um irgendwie anders reagieren zu können. Mit jedem Buchstaben, der über meine Lippen kam, hatte ich Angst, etwas falsches zu sagen.
Johannes zuckte mit den Schultern: "Ich weiß es nicht genau. Kurz vor Silvester jedenfalls... Ich weiß nicht, was sie geritten hat, sich zu betrinken...wahrscheinlich hatte sie Angst vor der Zukunft und vor meiner Reaktion. Und als sie uns dann auch noch gesehen hat..." Er verlor seine Fassung und ließ sich einfach auf die Knie fallen, während er sein Gesicht in seinen Händen vergrub und sich krümmte. Ich hockte mich vor ihn hin und griff nach seinen Handgelenken, zog sie zur Seite und verschaffte mir somit Blick in sein Gesicht - alles in mir zog sich schmerzerfüllt zusammen, als ich diese Verzweiflung in seinem Ausdruck sah.

"Wir sind Schuld, Jay", flüsterte er und gab damit meine Gedanken wieder - auch, wenn ich das niemals so vor ihm sagen durfte. Er brauchte mich jetzt.
Aber ja; wären die letzten Wochen nicht so verlaufen, wie sie es nunmal sind, dann hätte Anna das Kind garantiert nicht verloren. All das Leid, das wir ihr verschafft haben, waren sicherlich auch eine Belastung für ihren Körper und somit auch für das Ungeborene. Und wer weiß, wie oft Anna sich noch betrunken hatte, um die Tatsache zu vergessen, dass sie Johannes an ihren besten Freund verloren hat. Zudem wahrscheinlich der Gedanke, sie müsse das Kind alleine großziehen, was natürlich totaler Schwachsinn gewesen wäre; Johannes hätte auch trotz Trennung ein super Vater abgegeben.
Unser Zusammenkommen war verantwortlich für den Verlust des Fötus. Dem war ich mir bewusst und Johannes scheinbar auch.

"Ich konnte nicht mal für Anna da sein..." - "Wie denn? Sie hat dir nichts gesagt." Er sah auf und blickte in meine Augen: "Ist irgendwie auch verständlich, oder?" Ich antwortete nicht, sondern zog Johannes in eine Umarmung.
So saßen wir da zusammen nachts auf dem Bürgersteig - eng umschlungen. Alles war still; das einzige, was man hören konnte, was das leise Schluchzen, das Johannes ab und an entfuhr. Er weinte in meine Schulter, wo sich der Stoff meiner Jacke mit seinen Tränen vollsog. Ich vergrub meine Hand in seinen Haaren und drückte somit seinen Kopf fester an mich, während ich ihm mit meiner freien Hand über den Rücken strich und mir meine eigenen Tränen unterdrückte. Einer musste jetzt stark sein und dass Johannes es nicht konnte, war absolut nachvollziehbar. "Ich bin da, hörst du?", flüsterte ich also, weshalb seine Arme sich noch enger um meinen Körper legten, dass es mir schon die Luft raubte.

"Komm...Wir sollten gehen, sonst holst du dir noch etwas weg." Behutsam zog ich meinen Freund auf die Füße, nahm sein Gesicht in meine Hände und strich ihm mit meinen Daumen die Tränen von den Wangen. "Ich bin da", wiederholte ich und legte sanft meine Lippen auf seine, was ihn tatsächlich kurz zu beruhigen schien. Der Kuss schmeckte salzig und ich spürte die Verzweiflung, die sich in seinem gesamten Körper breit gemacht hat.

"Ich kannte das Baby nicht, wusste nicht einmal, dass es existiert und doch tut es so weh. Ich habe es umgebracht", wimmerte er, als wir uns voneinander lösten und kurz geschwiegen hatten. "Sag sowas nicht. Johannes, sag so etwas nie wieder!" Meine Stimme brach. Ich konnte es nicht ertragen, ihn so zu sehen und sowas von ihm zu hören. Ich konnte seinen Gedankengang nachvollziehen und doch war es schwachsinnig.

Ich zog ihn hinter mir her, bis wir endlich meine Wohnung erreichten und wir uns direkt ins Bett legten. Ich zog ihn sofort in meinen Arm und flüsterte immer wieder beruhigende Worte, bis sein flacher Atem, der durch das Weinen entstanden ist, sich verlangsamte und er schließlich tatsächlich eingeschlafen war. Ich strich über seinen Rücken und drückte meine Lippen auf seine Haare, während ich nun endlich all die Gedanken und Tränen zuließ, die ich mir vor Johannes verboten hatte.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt