Kapitel 44

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"Lukas!", rief meine Mutter ihm entsetzt hinterher, doch da war er schon längst nicht mehr im Haus und definitiv außer Hörweite. Johannes machte Anstalten, ihm  zu folgen, aber ich hielt ihn am Handgelenk zurück: "Nein, ich geh schon...Er ist immerhin mein Bruder und egal, was er für ein Problem hat; er muss es mit mir klären", sagte ich selbstbewusster, als ich war. Johannes ließ sich widerwillig auf seinen Stuhl sinken und ich schnappte mir meine Jacke, die im Flur an der Garderobe hing.
"Es tut mir leid, Johannes", hörte ich meinen Vater murmeln und bei einem letzten Blick ins Esszimmer erkannte ich in seinem Ausdruck, dass er sich für Lukas' Verhalten wirklich schämte.

Ich eilte nach draußen und der harte Regen, der scheinbar nur noch stärker geworden war, peitschte mir direkt ins Gesicht, hinterließ einen unangenehmen Schmerz auf meinen Wangen und machte es mir fast unmöglich, weiter als ein paar Meter sehen zu können. Doch nachdem ich einige Schritte gegangen bin, entdeckte ich Lukas im gedämmten Licht einer Straßenlaterne.

"Was hat Johannes dir getan?", rief ich, als uns nur noch ein kleiner Abstand trennte. Er wandte sich gar nicht erst mir zu, ich hörte nur ein verächtliches Schnauben, welches von einem Kopfschütteln begleitet wurde. Ich packte ihn an seiner Schulter und drehte ihn zu mir, sodass er mir ins Gesicht schauen musste; ich erschrak, als ich diesen Hass in seinen Augen sah. Hass, der sich gegen Johannes richtete. Und Hass, der sich gegen mich richtete. Seinen eigenen Bruder.
"Er hat aus dir 'ne verdammte Schwuchtel gemacht - das hat er getan!" Lukas' Stimme überschlug sich, während er sich scheinbar den ganzen Frust von der Seele schrie. Ich starrte ihn nur ungläubig an, ließ seine Worte in meinem Kopf widerhallen und wünschte mir, mich verhört zu haben. Verdammte Schwuchtel.
"Er hat gar nichts aus mir gemacht", stammelte ich nun viel leiser - ich war einfach viel zu geschockt und verletzt, um zurück zu schreien. "Ich bin immer noch Jakob, ich stand noch nie auf Frauen, ich..." - "Hör' auf, zu lügen! Jahrelang stellst du uns eine nach der anderen vor und jetzt behauptest du, du warst schon immer so...so..." Er stockte, fand scheinbar keinen passenden Begriff und ich war ihm dankbar dafür. Noch eine abschätzige 'Bezeichnung' hätte ich wahrscheinlich nicht überstanden, ohne vor seinen Augen in Tränen zusammenzubrechen. Doch gerade, als ich schon kaum hörbar erleichtert ausatmete, fügte er doch noch zischend etwas hinzu: "...so krank."

Das saß. In meinem Magen zog sich alles zusammen und mir wurde von der einen auf der anderen Sekunde so übel, dass ich Angst hatte, mich übergeben zu müssen. Lukas hatte mich als krank bezeichnet, weil ich nicht, wie die meisten Typen, auf Frauen, sondern auf Männer stehe. Für ihn war es nicht nur unnormal - etwas, das man nach einer Weile vielleicht akzeptieren kann. Nein, für ihn war es krank. Eine Krankheit, die niemand für gut empfinden kann, eben weil es eine Krankheit ist.

"Du hast doch sonst nie so über Schwule oder Lesben geredet", brachte ich stockend hervor, während die Tränen in meinen Augen sich schon förmlich in meine Netzhaut brannten. "Ich musste mir bisher ja auch nie Sorgen machen, dass ausgerechnet du mal so wirst! Hätte ich das gewusst, dann... Ich wusste schon immer, dass Johannes dir nicht gut tun würde!" Es lag so viel Verachtung in seiner Stimme, dass jedes Wort höllisch schmerzte. "Hör auf, so über ihn zu reden!", fuhr ich ihn mindestens genauso an, wie er mich. Er kam mir bedrohlich nahe und strahlte so viel Kälte aus, dass ich mich noch mehr in meine Jacke vergrub und die Arme vor der Brust verschränkte. Durch den starken Regen waren wir beide komplett durchnässt, einige Tropfen rannen von seinen Haaren über sein markantes Gesicht und fielen von dort aus auf den nassen Asphalt unter uns.
"Ich rede über ihn, wie ich will", fauchte Lukas leise. "Er hat dich krank gemacht, Jakob. Sieh' dich an: Du stehst hier wie ein Häufchen Elend mit Tränen in den Augen und willst mir erzählen, dass du einen Mann liebst. Das ist..." Er verstummte kurz und seine Augen schweiften zwischen meinen hin und her, bis der Hass in seinen noch einmal aufglühte und er seinen Satz beenden konnte: "...einfach abartig!"

Er stieß mich zur Seite, ließ mich einfach so stehen und mich an alles zweifeln, was er, mein Bruder, und ich jemals zusammen durchgestanden haben. "Ich bin immer noch dein Bruder", sagte ich mit gebrochener Stimme gerade so laut, dass Lukas es verstehen konnte, während ich mich zum ihm umdrehte und beobachten konnte, wie er kurz vor dem Haus unserer Eltern stehen blieb. Ganz langsam wandte er sich wieder mir zu und mit genauso einem quälend langsamen Tempo schüttelte er den Kopf. Sein eiserner Blick gemischt mit seinen Worten, ließen meine Welt zerbröckeln und mein Herz aussetzen: "Nein, Jakob. Du bist nicht mehr mein Bruder."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt