Kapitel 59

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Das stetige Auf- und Abwippen von Johannes' Bein trieb mich noch fast in den Wahnsinn und ließ meine eigene Nervosität ins Unermessliche steigen. Ich starrte wie hypnotisiert auf das Produkt von Angst und hoffte darauf, dass dieses Wippen dann endlich aufhören würde - Fehlanzeige. Johannes selbst beobachtete die wenigen Menschen, die sich mit uns in einem Raum befanden und hastig irgendwelche Unterlagen zusammensuchten oder andere Vorbereitungen trafen. Drei Kameras sind bereits aufgebaut worden; zwei vor uns - eine etwas weiter links, die andere eher rechts - und die dritte hinter uns. Sie war auf den Stuhl gerichtet, auf dem gleich Kathrin sitzen würde. Sie ist eine junge Journalisten - vor lauter Aufregung habe ich sogar allen Ernstes das Magazin, bei dem sie seit neustem arbeitete, vergessen -, die uns gleich zum GQ-Shooting befragen würde. Die Arme wusste ja nicht, dass sie Johannes und mir gleich mit den mit Sascha abgesprochenen Fragen die Vorlage für unser öffentliches Outing liefern würde. An ihrer Stelle würde ich vermutlich extrem überfordert mit so einer Situation sein.
Niels und Kris standen ein paar Meter von uns entfernt, hielten jeweils ein Becher mit Wasser darin in ihren Händen und unterhielten sich. Auch ihnen war eine gewisse Anspannung anzumerken. Sie hatten zwar direkt zugestimmt, dass Jo und ich unsere Beziehung in die Öffentlichkeit bringen, dennoch hatten sie vermutlich genauso viel Angst vor den Folgen, wie wir. Immerhin betraf es so viele Menschen. Doch Kris hatte vor ein paar Tagen, als wir ihn und Niels nach ihrer Meinung gefragt hatten, gesagt: "Wir unterstützen euch. Und falls irgendwelche Idioten ein Problem mit euch oder eurer Beziehung haben sollten, dann gehen wir alle gemeinsam - wir als Band - dagegen an." Genau das war es, was Johannes und ich hören wollten. Direkt nach der Absprache mit Niels und Kris, hatte Sascha dieses Interview hier in die Wege geleitet. Er wollte, dass Jo und ich es möglichst schnell hinter uns hatten. Und tatsächlich findet dieser Termin noch 'mitten' während unserer Tournee statt.

"Hey, alles okay?" Sascha hockte sich vor uns und musterte uns beide kurz besorgt. Sein Blick blieb ebenfalls kurz an Johannes' Bein hängen. Ohne dass wir antworten mussten, redete er weiter: "Bleibt ruhig. Ihr kennt die Fragen; wir haben die Antworten doch auch schon besprochen." - "Kathrin wird aber auch neue Fragen stellen, wenn wir mit der endgültigen Wahrheit 'rausrücken", bemerkte Johannes nervös. Er hatte Recht; sobald wir uns als Paar zu erkennen geben, würde Kathrin vom Drehbuch abweichen und eigene Fragen stellen, auf die wir halt noch keine Antworten mit Sascha vorbereitet hatten. "Ja, und? Ihr wisst schon, was ihr sagen müsst. Denkt dran; ich habe auch mit Anna und ihrem Management telefoniert und abgeklärt, dass ihr auch im Bezug auf sie ehrlich sein dürft. Abgesehen von dem Kind; das Thema ist tabu." - "Denkst du wirklich, ich hätte das angesprochen?", Johannes klang fast schon wütend. Dabei war er einfach nur unfassbar nervös. Sascha seufzte und erhob sich wieder: "Bald könnt ihr euch überall als Paar zeigen; freut euch darauf." Und damit - und mit einem Schulterklopfen - verschwand er zu Niels und Kris, die uns ebenfalls nochmal ermutigend anlächelten. Ja, bald könnten Johannes und ich Händchen halten, uns küssen, einen auf Pärchen machen, wo wir wollen und ohne uns vorher umzusehen. Doch das Interview würde erst in vier Tagen veröffentlicht werden; ein Tag nach dem Tourfinale in Hamburg. Bis dahin hieß es, zittern und sich dramatische Szenarien über die Reaktion der Öffentlichkeit ausmalen.

"Okay, es kann losgehen!", rief ein wichtig aussehender Mann mit Headset. Johannes schaute mich hilfesuchend an, doch ich strich nur kurz über seine Hand: "Wir stehen das zusammen durch", flüsterte ich und er zwang sich zu einem Lächeln. Kathrin setzte sich auf ihren Platz direkt vor uns und ihre Mundwinkel zogen sich von einem Ohr, bis zum anderen: "Und? Seid ihr auch bereit?" - "Wie man's nimmt", scherzte Johannes mit einem verzweifelt klingenden Lacher, woraufhin Kathrin verwirrt die Stirn runzelte, uns im nächsten Moment allerdings wieder breit anstrahlte. Der Mann mit dem Headset gab ein Zeichen; alles wurde still, das Licht wurde eingestellt und jeder konzentrierte sich auf uns. Ich bildete mir ein, mein eigenes Herz wie wild gegen meine Brust pochen zu hören. Ich atmete tief durch, schloss meine Augen und als ich sie wieder öffnete, begann Kathrin auch schon mit der ersten Frage:

"Also; Johannes, Jakob? Ihr habt im Dezember bei der Kampagne #Mundpropaganda von unserem GQ-Magazin mitgemacht. Könnt ihr nochmal kurz erklären, worum es da ging?" Ah, jetzt wusste ich zumindest auch wieder, welchem Magazin wir jetzt unser größtes Geheimnis unterbreiten würden. Das machte auch am meisten Sinn; immerhin fing bei dessen Shooting alles an. Johannes räusperte sich, er setzte sich aufrecht hin und lächelte sein schönstes Lächeln; ja, er konnte schon immer total locker und professionell 'rüberkommen, sobald die Kameras an waren - eine Eigenschaft, um die ich ihn beneidete.
"Nun ja, es ging um das Thema Homophobie", begann er. "Ein leider noch sehr verbreitetes Thema hier in Deutschland - Jakob und ich haben uns sofort bereit erklärt, unsere Meinung dazu zu äußern und im Anschluss ein bisschen für die Kamera 'rumzuknutschen. Es sollte ein Statement sein und wir hoffen, dass die Botschaft zumindest bei ein paar Menschen da draußen angekommen ist; man sollte sich für seine Sexualität nicht schämen müssen!" Er lugte kurz zu mir 'rüber und lächelte vielsagend, bevor er sich sofort wieder auf Kathrin konzentrierte.

"Habt ihr aus eurem Umfeld irgendwelche negativen Reaktionen zu eurer Teilnahme am Shooting erlebt?" Dieses Mal war ich es, der antwortete: "Nein. Jeder, mit dem wir darüber gesprochen haben, hat uns eher gelobt, als negative Kritik geäußert. Man hat die Sache als sehr mutig abgestempelt und das hat uns schon ziemlich stolz gemacht." Ich schluckte schwer, als mir plötzlich auffiel, dass ich sogar damals schon hätte merken müssen, dass Lukas ein Problem mit Schwulen hatte. Als ich über die Feiertage bei meinen Eltern war und diese mich dafür gelobt hatten, was für eine tolle Aktion das doch gewesen sei, schwieg mein Bruder immer nur oder wechselte augenblicklich das Thema. Damals war mir das sogar ganz recht; somit musste ich nicht unnötig viel darüber reden, wie es war, Johannes zu küssen, wenn ich ihn und unsere Küsse in diesen Tagen doch nur vergessen wollte.

"Und wie hat es sich für euch angefühlt, einen Mann zu küssen? Waren es überhaupt eure ersten Küsse mit dem gleichen Geschlecht?" - "Für uns beide war es tatsächlich das erste mal", antwortete ich auf den zweiten Teil der Frage und schob dabei die Gedanken an Lukas vorerst wieder beiseite. "Trotz unserer wilden Zeit vor zehn Jahren waren es immer nur Frauen, die wir geküsst hatten. Das war für einige auch wirklich eine Überraschung und wir können es denjenigen nicht einmal übelnehmen." Ein leises Lachen erfüllte den Raum, bevor Johannes auf die andere Frage einging. "Und eben da es die ersten Küsse mit einem Mann waren, waren wir insbesondere am Anfang auch sehr vorsichtig. Es hat sich ungewohnt angefühlt - immerhin küsst man nicht jeden Tag seinen besten Freund. Es war zunächst etwas komisch, aber unser Jakob hier hat sich echt als guter Küsser bewiesen", grinste Johannes schelmisch und stieß mir sanft in die Seite, woraufhin meine Wangen sich rosa färbten und ich kurz zu Boden sah.

"Johannes, du sagst selber, dass man nicht jeden Tag seinen besten Freund küsst. Hat das Shooting eure Freundschaft beeinflusst? Habt ihr euch die nächsten paar Tage erstmal peinlich berührt angeschwiegen oder seid ihr dadurch nur noch enger zusammengeschweißt?" Da war sie. Die Frage, an der unser Puls ganz oben war. Ich spürte die Anspannung, die von Niels, Kris und Sascha ausging und die von mir und Jo nur noch verstärkte. Johannes räusperte sich: "Tatsächlich hat das alles ziemlich viel verändert", erklärte er kurz, wobei seine Stimme zum ersten Mal unsicher klang. "Inwiefern?", hakte Kathrin neugierig nach. Ich schaute zu Sascha, welcher einmal nickte und mir damit bestätigte, dass es jetzt der richtige Zeitpunkt sei, um ehrlich zu sein. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und pumpte noch einmal kräftig Luft in meine Lungen: "Während des Shootings habe ich die Kontrolle über mich verloren. Ich habe Johannes inniger geküsst, als geplant; ich hatte schon Jahre lang Gefühle für ihn. Das alles hat dann so einiges ins Rollen gebracht und..." Schon jetzt starrte mich die Crew des Magazins mit weit aufgerissenen Augen an. Natürlich; ich hatte hier gerade gestanden, dass ich schon Ewigkeiten in den Sänger meiner Band verliebt war. Nach kurzem nervösen Stocken, vollendete ich meinen Satz: "Und mittlerweile sind wir seit zwei Monaten ein Paar."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt