Kapitel 6

446 22 2
                                    

Ich bestellte Niels und Kris zu Johannes' Wohnung; Flo war nicht zu erreichen. Der musste wahrscheinlich immer noch Dampf ablassen. Die zwei Gitarristen machten sich direkt auf den Weg und standen nach kurzer Zeit zusammen vor der Tür. "Hey", begrüßte Niels uns, währenddessen Kris nur schwieg. Ihm war das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben - wahrscheinlich bereute er, was er Johannes gestern noch alles vorgeworfen hatte.
Er schlenderte ins Wohnzimmer und setzte sich schuldbewusst gegenüber von Johannes.
"Hör zu, Mann..." Er stockte und sah zum ersten Mal, seit er die Wohnung betreten hatte, auf. "Das war gestern echt nicht so gemeint. Es war nicht fair, dir alte Lappalien vorzuwerfen, über die wir schon längst hinweg sind...", murmelte Kris und kratzte sich am Hinterkopf. Währenddessen hatten auch Niels und ich uns aufs Sofa gesetzt und starrten abwechselnd zwischen Jo und Kris hin und her. "Tut mir echt leid." - "Schon gut, muss es nicht. Ich hätte euch vier einfach nicht so überrumpeln sollen." Nachdem Johannes dies gesagt hatte, herrschte erst einmal wieder Stille. Niemand wusste, was genau zu sagen war; es war einfach eine unangenehme Situation.
"Kris und ich haben auf dem Weg hier hin geredet", brach Niels schließlich das Schweigen. "Mit 'In Farbe' sind wir durch, das neue Jahr hat gerade erst angefangen und wir haben uns wirklich eine Pause verdient. Das heißt ja nicht, dass wir uns aus den Augen verlieren oder Revolverheld Geschichte ist, aber...Auf uns kannst du zählen, Johannes." Er sah noch mal zu Kris, der zustimmend nickte, und dann wieder zu Johannes, dessen Gesicht zu strahlen begann: "Danke, Jungs!"
"Aber du musst natürlich noch mal mit Flo sprechen", murmelte ich, Johannes nickte vehement und sprang auf: "Wird sofort erledigt! - "Warte!", rief Kris ihm hinterher. "Niels und ich bestehen natürlich darauf, erst einmal etwas von deinen Liedern zu hören. Wir wollen uns ja nicht fremdschämen, wenn dein Album grottig werden sollte." Johannes schüttelte schmunzelnd den Kopf und zuckte mit den Schultern: "Auf eigene Gefahr."
Er verschwand in seinem Arbeitszimmer, um eine Gitarre zu holen. Währenddessen musterte Niels mit gerunzelter Stirn skeptisch meine zerzausten Haare und mein Outfit vom Vortag: "Hast du hier gepennt?" - "Ja, ich wollte Johannes gestern noch ungern alleine lassen." - "Ah...", sagte Niels und zog die Augenbrauen hoch. "Was?", fragte ich etwas zu harsch. "Nichts. Du...du hängst dich einfach nur sehr für Johannes rein. Das ist alles."
In diesem Moment kam Johannes auch schon wieder mit einer Gitarre zurück und setzte sich. Er schaute mich an und ich nickte ihm ermutigend zu, bevor er erneut tief ein- und ausatmete und das gleiche Lied zu spielen und zu singen begann, wie er es vor mir ein oder zwei Stunden vorher getan hatte.
Auch Niels und Kris schienen begeistert zu sein; sie sagten keinen Mucks und hörten Johannes aufmerksam zu, der komplett abgetaucht war. "Das...das ist gut. Richtig gut sogar", sagte Niels so leise, dass es fast einem Flüstern gleichkam. Ich nickte zustimmend und stolz und stupste Johannes leicht in die Seite, während er etwas errötete: "Kris? Was sagst du?" - "Wir können einpacken. Wenn du damit erstmal losziehst, hat bestimmt niemand mehr Bock auf Revolverheld", sagte er ganz ernst und ich starrte ihn entgeistert an, ehe er sich das Grinsen nicht mehr verkneifen konnte und sogar ich kapierte, dass er Johannes einfach nur gut zusprechen wollte. Dieser lächelte einfach nur und warf mir einen Blick zu, aus dem man ein 'Danke' herauslesen konnte. Ich zog meinen linken Mundwinkel nach oben und nickte einmal kaum merkbar.
"Ok, ich...mach mich auf den Weg zu Flo. Wir sehen uns später? Fühlt euch wie zuhause und drückte mir die Daumen", rief Johannes und schon war er durch die Wohnungstür verschwunden.
"Er hat's dir echt angetan, oder?", fragte Niels mich und ich blickte ihn mindestens genauso erschrocken und verwirrt an, wie Kris. "Was? Wovon redest du?" Meine Stimme überschlug sich fast. "Na, den Song meine ich. Du wirktest fast wie in Trance", erklärte Niels und zumindest Kris' Gesichtsausdruck entspannte sich wieder und er musste lachen. Meine Miene lockerte sich auch wieder langsam und ich zwang mich zu einem Lächeln: "Ja, der Song ist echt schön." Ich wich seinem skeptischen Blicken aus und starrte aus dem Fenster. Ja, ich fand das Lied wirklich gut und auch, wenn ich es bisher nur zweimal gehört hatte, bekam ich allein bei den Gedanken an den Song Gänsehaut. Vielleicht, weil ich tief im Inneren, seit dem ersten mal hören, hoffte, dass Johannes dieses Lied für mich geschrieben hatte.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt