Kapitel 80

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~ Jakobs Sicht ~

Niels hatte es nicht verdient, angelogen zu werden - nicht nach alledem, was er für mich getan hatte. Wahrscheinlich hätte ich ihm die Wahrheit sagen sollen, um dann direkt den Unglaube in seinem Gesicht zu sehen und kurz darauf in seine Arme gezogen zu werden. Er wäre die nächsten Tage, Wochen, Monate für mich da gewesen, ich hätte weiterhin bei ihm und Nicci wohnen können, bis ich mich dafür bereit fühlte, alleine klarzukommen und mir etwas eigenes zu suchen. Eine Wohnung - ohne Johannes.
Doch all das wollte ich nicht. Ich wollte nicht, dass Niels sich zu sehr mit meinem Unglück beschäftigte, während bei ihm alles glatt lief und er allen Grund hatte, glücklich und unbeschwert zu sein. Das gleiche galt auch für Kris. Für Sascha, Arne, Chris, andere Freunde oder Bekannte - sie alle hätten mich unter den Umständen sofort bei sich aufgenommen. Sie sollten sich allerdings nicht mit der Trennung von Jo und mir auseinandersetzen müssen, an der man sowieso nichts mehr ändern kann. Und ich... ich für meinen Teil konnte und wollte mich nicht mit ihr und ihrem Grund auseinandersetzen. Ich wollte es vergessen. Johannes, unser Scheitern, die Frau aus der Bar.
Ich wollte all das vergessen und nicht tagtäglich mit irgendjemanden darüber reden, der ohnehin nichts davon rückgängig machen konnte.

Deshalb log ich Niels an. Behauptete, dass Jo und ich uns versöhnt hätten. Bedankte mich bei ihm. Und ging.

Es blieb mir draußen angekommen gar nichts anderes übrig, als wieder zurück zu Johannes' und meiner Wohnung zu gehen, vor der mein Auto parkte, mit dem ich für eine Weile die Stadt verlassen wollte - einfach 'raus und den Kopf frei kriegen. Der Realität entfliehen; wenigstens für ein paar Tage.
Ich fühlte mich zu ausgelaugt, um den ganzen Rückweg ein weiteres Mal zu Fuß zu bestreiten, weshalb ich - meine Tränen weiterhin unterdrückend - mich zur nächsten U-Bahn schleppte und vier Stationen lang damit fuhr, bis es nur noch zwei Häuserblocks bis zu meinem Wagen waren. Immer wieder schaute ich mich um, um sicherzugehen, dass Johannes nicht nach mir suchte.

Dann endlich erreichte ich meinen geliebten Audi. Meine Fingerknöchel waren schon ganz weiß - so fest hatte ich die ganze Zeit über die Griffe meiner Reisetasche umklammert; als wäre sie mein letzter Halt, ohne den ich das Gleichgewicht verlieren würde.
Die Tasche hievte ich auf die Rückbank, ehe ich um das Auto herumging und mich hinters Lenkrad setzte, den Schlüssel im Zündschloss herumdrehte und nur noch einen kurzen, vorsichtigen Blick hoch zu unserem Küchenfenster im dritten Stock wagte. Tief durchatmend setzte ich den Blinker, fuhr aus der Parkbucht und einige Kilometer später befand ich mich schon auf der Autobahn.

Während der gesamten Fahrt, sah ich nicht ein einziges Mal in den Rückspiegel. Mein Fuß war wie aufs Gaspedal geklebt und mein Blick stur geradeaus gerichtet. Mir war egal, wohin es ging - bloß weit weg von der Hansestadt. Von Johannes.
Letztendlich führte es mich nach ein paar langen Stunden an den Bodensee. Dort hing ich einige Tage lang - teils am See, teils in meinem Bett in irgendeinem Hotel, das noch ein Zimmer frei hatte, teils in einer Bar - meinen sinnlosen Gedanken nach. Es war immer dasselbe. Immer dieselben Bilder in meinem Kopf. Immer dieselben Fragen. Immer das gleiche erdrückende, schmerzende Gefühl in meiner Brust. Doch immer noch keine Tränen. Ich blieb stark - wollte Johannes und seinem Ego nicht den Sieg gönnen, mich wieder einmal zum Heulen gebracht zu haben.

Schließlich hatte mich die Zeit im Süden Deutschlands nach elf Tagen nur zu einem Entschluss gebracht; wenn man an furchtbaren Liebeskummer litt, nicht nur dem (Ex-)Partner, sondern auch sich selbst die Schuld zuschrieb und dann auch noch ohnehin schon eine emotional labile Person war, sollte man sich nicht knapp 800 Kilometer von seiner Heimat entfernen, um alleine 'den Kopf frei zu bekommen' - letztendlich führte mich das lediglich in den emotionalen Ruin. Meine Gedanken, dieser unerbittliche Schmerz in mir drinnen und das Wissen, Johannes verloren zu haben, trieben mich in den Wahnsinn - und beinahe zu ganz anderen Dingen. Ich erinnerte mich an mein Gespräch mit Niels vor ein paar Jahren auf der Brücke und an mein Versprechen, das ich ihm gegeben hatte. Ich hatte ihm versprochen, mit ihm zu reden, falls ich jemals den Drang verspüren sollte, mir etwas anzutun. Doch ich wollte nicht reden, wusste allerdings, dass ich auch nicht weiterhin alleine bleiben könnte. Zu meinen Freunden nach Hamburg konnte ich jedoch nicht, ohne besagtes Reden zu vermeiden - sie wussten bestimmt schon längst Bescheid und würden versuchen, den perfekten Therapeuten für mich darzustellen.

Und jetzt saß ich hier bei meinen Eltern am äußersten Rande Hamburgs. Selbst gebackener und gut duftender Schokokuchen stand in der Mitte des Esstisches, um den Mama, Papa und ich verteilt saßen. Seit drei Tagen war ich nun schon hier und tatsächlich konnte ich meine momentane Situation hin und wieder vergessen. Es ging mir noch längst nicht gut - davon war ich noch meilenweit entfernt -, aber hier in meinem Elternhaus hatte ich zumindest das Gefühl, dass es mir irgendwann besser gehen könnte.
Meinen Eltern hatte ich erzählt, ich wollte einfach mal wieder Zeit mit ihnen verbringen. Skeptisch waren sie schon ein bisschen, aber sie hatten nichts weiter dazu gesagt und sich einfach darüber gefreut, ihren Sohn für ein paar Tage mal wieder bei sich zu haben - ihren einzigen Sohn, zu dem sie noch Kontakt hatten.

"Mh, Jakob", begann Mama schließlich und schluckte den letzten Bissen ihres Kuchenstückes hinunter, ehe sie ihre Gabel beiseite legte. "Ich hab' eben unseren Anrufbeantworter abgehört und da war eine Nachricht von Niels 'drauf." Ich hörte sofort auf zu essen und bemühte mich so gelassen wie möglich zu reagieren. "Was wollte der denn?", fragte ich also mit amüsierter Stimmlage. "Die Nachricht war vom 23. - ich habe schon ewig nicht mehr den AB abgehört", lachte Mama über sich selbst.
Der 23.; das war einen Tag, bevor ich vom Bodensee wieder hochgefahren bin. "Er klang ziemlich durcheinander und wollte fragen, ob wir wüssten, wo du steckst." - "Oh, da hat er mir wohl mal wieder nicht richtig zugehört", lachte ich nervös und legte mir im Kopf die passende Ausrede zusammen. "Ich hatte ihm eigentlich gesagt, dass ich für zwei bis drei Tage an die See fahre und danach eine Weile bei euch sein will." Ganz beiläufig zuckte ich mit den Schultern und lud mir selbst ein weiteres Stück vom Schokokuchen auf den Teller: "Niels macht sich gerne mal viel zu schnell Sorgen, wenn man nicht gleich ans Handy geht. Das habe ich nämlich im Handschuhfach - wollte einfach mal abschalten. Du brauchst ihn nicht zurückrufen, Mama. Wahrscheinlich hat Johannes ihm schon wieder auf die Sprünge geholfen." Ich klang verdammt überzeugend, wie ich fand. Auch meine Mutter schien es mir abzukaufen, sie nickte amüsiert lächelnd und widmete sich ihrem Kaffee. Papa hingehen musterte mich skeptisch, was mich nervös werden ließ:
"Du bist bereits seit fünf Tagen von zuhause weg und ignorierst dein Handy? Geht es dir gut?"
'Eigentlich schon seit vierzehn Tagen, Papa, aber das kannst du ja nicht wissen, wenn ich dich anlüge, und nein, es geht mir ganz und gar nicht gut', denke ich mir, nicke jedoch.
"Vermisst Johannes dich denn nicht?", hakte er stichelnd nach, während er mit seinen Augenbrauen wackelte. Ich spürte ein gewaltiges Stechen im Herzen, schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und zog gequält meine Mundwinkel nach oben, während ich langsam von meinem Stuhl aufstand: "Entschuldigt mich; mir ist gerade nicht so gut. Ich brauche mal frische Luft."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt