Kapitel 85

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Beinahe sechs Wochen hatte ich bei Niels und Nicci gewohnt, bis ich in eine gemütliche Dreizimmerwohnung in einer guten Gegend Hamburgs ziehen konnte. Ich kaufte fast alle Möbel neu, um Johannes und dem Gespräch über die Aufteilung unserer Möbel so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Außerdem hatte ich gehofft, dass mich eine komplett neue Einrichtung weiter in Richtung Neuanfang treiben könnte und mir die ganze Trennungssache leichter fallen könnte. Jedoch hatte ich vor Johannes noch nie eine ernstzunehmende Beziehung gehabt, die länger als ein Jahr gehalten hat, und somit hatte ich im Alter von 37 Jahren meinen ersten wirklichen Liebeskummer, der auf Trennungsschmerz beruhte. Oftmals gelangte ich dann an den Punkt, an dem ich mich fragte, ob ich nicht überstürzt gehandelt hatte und ob ich Johannes nicht vielleicht doch eine Chance hätte geben sollen. Doch ich redete mir ein, dass ich nur über sowas nachdachte, weil ich ihn vermisste, und dass ich zum Thema Liebe momentan eigentlich gar nicht zurechnungsfähig war.

Die Tage, die Wochen, die Monate verstrichen - mal kamen sie mir elendig lang vor und manchmal hatte ich das Gefühl, ich käme gar nicht hinterher. Mal fühlte es sich an, als könnte ich wirklich über Johannes hinwegkommen, doch es reichte ein altes Bild, eine kurze Begegnung, eine winzige Erinnerung und ich fiel unsanft zurück, wurde von Gefühlen für den Sänger überrannt und dachte wirklich, ich könnte mich nie wieder neu verlieben, geschweige denn ein ertragbares, glückliches und sorgenfreies Leben führen.

Es wurde September und draußen färbte sich das Laub der Bäume nach und nach in herbstliche Farben. Der Wind, der durch die Straßen fegte, wurde kühler und immer öfter waren dunkle Wolken am Himmel zu sehen.
Nächste Woche würden die intensiven Bandproben wieder losgehen, nachdem wir die vergangenen Monate nutzen konnten, um unser Album noch einmal zu überarbeiten und zu verbessern; vielleicht hatte die Verschiebung der Aufnahme doch etwas gutes.
Glücklicherweise hatte ich in der Überarbeitungsphase auch nicht all zu viel mit Johannes zu tun, da er und Kris hauptsächlich dafür verantwortlich waren und die Schlagzeugparts größtenteils unverändert blieben, jedoch war es genug Kontakt, um uns langsam darauf vorzubereiten, wie es sein würde, bald jeden Tag gemeinsam im Proberaum oder im Studio zu verbringen.

"Kris, wie oft noch? Mir geht es gut!", stöhnte ich genervt, als er an einem Freitagabend gegen 21 Uhr - mal wieder - vor meiner Tür stand. Seit der Trennung von Johannes passierte das ständig und es nervte mich bereits ab dem ersten Mal. Nicht, wegen Kris an sich, sondern weil er einfach nicht verstehen wollte, dass ich mich melden würde, falls ich Ablenkung benötigte oder Redebedarf hatte.

"Das kannst du jedem Fremden erzählen, aber nicht deinen Freunden, die dich seit Jahren kennen." - "...und mir seit Jahren auf den Sack gehen", murmelte ich und ließ Kris eintreten.
"Das habe ich jetzt mal überhört. Hast du Bier da?" Ich atmete tief durch, nickte und deutete mit den Worten "Kühlschrank. Bedien dich" auf die Küche, bevor ich selbst zurück ins Wohnzimmer schlurfte und mich aufs Sofa fallen ließ.
Kurze Zeit später setzte er sich neben mich und reichte mir eine bereits geöffnete Flasche Bier, stieß mit seiner dagegen und setzte an, ehe er den Inhalt auf einem Zug fast komplett leerte. Meinen fragenden Blick ignorierte er einfach und ich nahm es einfach als Aufforderung, ebenfalls so schnell zu trinken, worauf ich mich ausnahmsweise einließ; wenn ich ihn schon an der Backe hatte, brachte es nichts, auch nur ansatzweise Widerstand zu leisten - oder es auch nur zu versuchen. Und da heute eh eher einer meiner schlechten Tage war, an denen ich in Selbstmitleid, alten Erinnerungen und Liebeskummer versank, war Ablenkung vielleicht eine ganz gute Idee.

"Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?", fragte Kris nach langem Schweigen. Seufzend rieb ich mir die Schläfen und zuckte mit den Schultern: "Ist schon 'n bisschen her." - "Und...Wie geht ihr miteinander um?" - "Gar nicht. Wir reden kaum." - "Jakob..."
Er stockte und fuhr sich durch seine Haare. "Ab nächster Woche werdet ihr dazu gezwungen sein, aufeinanderzuhocken. Falls du es vergessen haben solltest, haben wir die eigentliche Aufnahme, die im Mai beginnen sollte, wegen eurer Trennung verschoben. Dass Sascha das noch irgendwie geregelt bekommen hat, war echt ein Wunder! Ein zweites Mal klappt das nicht - ihr müsst euch zusammenreißen! Ihr habt uns versprochen, dass die Band nicht unter euren Problemen leiden würde." - "Ich weiß", murmelte ich und strich mir durchs Gesicht. "Ich liebe ihn einfach immer noch viel zu sehr, um das alles vergessen zu können, Kris." Ich sah den Gitarristen eindringlich an und er nickte verständnisvoll. Ich ließ meine Gedanken kurz schweifen, bevor ich kaum merkbar mit dem Kopf schüttelte und nochmal neu anfing: "Ich verspreche dir hoch und heilig: Die Platte wird pünktlich zum neuen Termin im März fertig sein. Wir kriegen das schon hin." Skeptisch musterte Kris mich und schüttelte schließlich verzweifelt mit dem Kopf.

Es wurde wieder still zwischen uns. In Gedanken waren wir beide gerade ganz woanders und es dauerte eine Weile, bis Kris aus seinen wieder auftauchte.
Er trank seine Bierflasche aus und klopfte auf seine Oberschenkel: "Du ext jetzt deine Flasche und dann suchen wir dir 'nen Typen!" Ich zog meine Augenbrauen zusammen und versuchte, seinen Plan zu durchschauen: "Du weißt schon, dass es nicht ganz so einfach ist, einen Homo-Mann zu finden, wie eine Hetero-Frau, oder?" - "Wofür gibt es Schwulenbars? Jetzt komm schon!" - "Du willst mit mir in eine Schwulenbar?", hakte ich amüsiert und mit gerunzelter Stirn nach.
Seufzend ließ Kris seinen Blick durch den Raum schweifen, ehe er bestimmt nickte: "Jakob Sinn, wenn du noch länger wartest, werde ich mein Angebot zurücknehmen. Das ist deine Chance." Ich schmunzelte und ließ mir die Idee ein paar Sekunden durch den Kopf gehen: "Okay." Vermutlich hatte Kris noch einen Funken Hoffnung gehabt, ich würde ablehnen, da er leise "Steffi wird mich umbringen" nuschelte, bevor er aufstand und mir meine Jacke zuwarf.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt