Kapitel 66

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Das Kaffeetrinken mit Jos Eltern mussten wir leider verschieben; am Mittwoch fand für Johannes und mich nämlich ein wahrer Interviewmarathon statt. Nach den dann doch insgesamt vier Interviews zu unserem Outing, hatte die gesamte Band noch einen Termin, der sich um unsere abgeschlossene Tour drehte. Glücklicherweise wurde uns zumindest da keine Frage zu Jos und meiner Beziehung gestellt - das war mit Sascha so abgesprochen.
Da das allerdings auch das letzte Interview für diesen Tag war, schweifte ich vor lauter Erschöpfung total ab und war mit meinen Gedanken ganz woanders. Vermutlich starrte ich genauso hypnotisiert vor mich hin, wie es sonst nur Niels tat, während die Reporterin eine Antwort nach der nächsten aus einem von uns holte; naja, abgesehen von mir halt. Worüber ich die ganze Zeit nachdachte, konnte ich gar nicht aufzählen, als Kris mich auf dem Weg nach draußen fragte - da war einfach zu viel, was mir durch den Kopf ging.

Mir entgingen auch Johannes' Blicke nicht, während ich auf Kris' Frage hin mit den Schultern zuckte; ich konnte mir ganz genau vorstellen, wie er mich bereits während des Interviews intensiv gemustert hatte und ihm dieselben Worte und Fragen auf der Zunge lagen, wie in diesem Moment. Doch er schwieg, hatte seine Lippen aufeinander gepresst, verkniff sich, seine Besorgnis laut auszusprechen, obwohl man sie klar und deutlich in seinen Augen erkennen konnte. Ich hatte ihm vor ein paar Wochen in unserem alten Proberaum versprochen, dass ich von nun an ehrlich zu ihm sein würde, wenn mich etwas belastet, und er vertraute mir scheinbar. Zurecht. Es ging mir nicht schlecht - nein, im Gegenteil: vielleicht bin ich eben in meinem Kopf während des Interviews nochmal all das vergangene Chaos durchgegangen und ja, die ein oder andere Sache hat mir auch einen Stich versetzt. Ganz besonders, wenn ich an Lukas gedacht habe, aber darüber würde ich wohl nie komplett hinwegkommen können. Doch insgesamt hat mir dieses gedankliche Abschweifen, das ich mir eventuell doch öfter mal von Niels abgucken sollte, eigentlich nur eins gezeigt: jetzt konnte es nur noch bergauf gehen und das war ein Grund, glücklich zu sein.

"Ey, ich hab' Mordshunger. Wollen wir noch zusammen etwas essen gehen?", fragte Niels, wobei er eine Hand auf seinem Bauch platzierte, als wir an unseren Autos ankamen. "Klar, bei mir um die Ecke hat ein neuer Italiener aufgemacht. Der soll wohl ganz gut sein", schlug Kris mit hochgezogenen Augenbrauen vor, woraufhin Niels nickte und Johannes mich fragend ansah: "Wenn etwas ist und du reden willst, können wir auch nach Hause fahren", lag in diesem Blick, doch ich antwortete den beiden Gitarristen mit einem "Wir sind dabei" und lächelte in Jos Richtung, wobei ich in seinem erleichterten Ausdruck erkannte, dass er die Botschaft richtig verstanden hatte - es gab keinen Grund zur Besorgnis.

Nur kurze Zeit später befanden wir vier uns dann im besagten Restaurant nur ein paar hundert Meter von Kris' und Steffis Wohnung entfernt. Und so, wie ich da saß - meine besten Freunde um mich, den Mann, den ich abgöttisch liebe an meiner Seite, unsere Finger, die sich immer wieder automatisch unterm Tisch fanden und sich verschränkten, eine ausgelassene Unterhaltung nach der anderen, herzhaftes Lachen und wahrscheinlich die beste vegetarische Lasagne, die ich je in meinem Leben gegessen habe - war ich wirklich glücklich. Ich fühlte mich so unbeschwert und meinetwegen hätte dieser Abend noch ewig so gehen können. Wenigstens fanden wir alle diesen Abend so schön, weshalb wir auch festlegten, das in näherer Zukunft zu wiederholen. Es war schon lang her, dass wir vier uns getroffen haben, ohne dass irgendwelche wichtigen Angelegenheiten zu Revolverheld zumindest einmal kurz angeschnitten wurden. Es war für alle auch mal ein gutes Gefühl, einfach nur als Freunde zusammen zu sitzen und die Band einfach mal Band sein zu lassen.

Johannes und ich ließen das Auto stehen und entschlossen uns dazu, durch den nahegelegenen Park zurück zur Wohnung zu gehen. Es war schon längst dunkel und wir begegneten nicht einem einzigen Menschen. Nachdem wir eine ganze Weile noch über Gott und die Welt redend Hand in Hand nebeneinanderher geschlendert sind, legte Jo irgendwann seinen Arm um mich und drückte mir einen Kuss auf die Wange: "Dir geht's, glaube ich, wohl wirklich gut, hm?" Ohne ihn anzusehen, wusste ich ganz genau, wie er mich anlächelte; der linke Mundwinkel etwas höher, als der andere, die eine Augenbrauen ein Stück hochgezogen und zwei kleine Falten an seiner Stirn, die aber von den vielen Lachfalten um seine Augen herum in den Schatten gestellt wurden - sie machten ihn einfach noch attraktiver, als er es ohnehin schon war. "Ja, der Tag war zwar anstrengend, aber der Abend war wirklich unglaublich schön, sowie momentan alles nahezu perfekt ist", grinste ich stolz und schmiegte mich noch etwas enger an Johannes. "Nur nahezu?", hakte er mit vorgeschobener Unterlippe nach und ich lachte kurz auf, bevor ich in das dunkle Braun seiner faszinierenden Augen sah, welches sich mit dem Schwarz der eintretenden Nacht zu verschwimmen schien. Ich verlor mich kurz darin, doch mit der Zeit hatte ich gelernt, dem Drang, meine Lippen in solchen Momenten auf die von Johannes zu pressen, zumindest hin und wieder zu widerstehen - auch jetzt. Allerdings benötigte ich doch ein paar Sekunden, um mir wieder ins Gedächtnis zu rufen, worüber wir gerade geredet hatten, bevor ich antworten konnte:

"Ja, eine Sache fehlt noch."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt