Kapitel 16

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Irgendwann ergab es sich, dass ich alleine mit Anna draußen stand. Sie war etwas angetrunken und redete noch mehr, als gewöhnlich. Ich mochte Anna wirklich. Sie war eine tolle Frau und wahrscheinlich beneidete jeder sie um die Beziehung mit Johannes - ich eingeschlossen.

"Und? Wie läuft es momentan bei dir so in der Liebe?", erkundigte sie sich, als könnte sie meine Gedanken lesen. Ich zuckte bloß mit den Schultern und sah in die Ferne.
"Echt? Gar nix los? Du hattest doch sonst immer irgendeine am Start." Ich wandte meinen Blick zu ihr: 'Ja, um deinem Freund irgendwie widerstehen zu können und in der Hoffnung, mich irgendwann mal tatsächlich in eine von diesen Frauen verlieben zu können', unterdrückte ich mir zu sagen.
"Und bei dir und Johannes?", fragte ich stattdessen, obwohl es ganz offensichtlich war, wie glücklich sie zusammen waren. Anna kicherte; ihr typisches Kichern, wenn sie bereits ein-zwei Gläser zu viel hatte: "Er verlangt von mir momentan wirklich alles ab, wenn du verstehst, was ich meine." Ok, es waren vielleicht drei-vier Gläser zu viel.
"Ich verstehe", sagte ich knapp und sah wieder nach vorne. Ich wollte nicht genauer auf ihr Sexleben eingehen, da es erstens viel zu privat war und mich zweitens verletzte, doch Anna plapperte munter weiter: "Aber irgendwie...die Gefühle dabei fehlen. Ich weiß nicht, ob er mit dem vielen Sex einfach wieder gut machen will, dass er mir momentan wenig Aufmerksamkeit und Zeit schenkt; es fühlt sich jedenfalls nicht an, wie früher, weißt du?" Ich nickte kaum merkbar; mit gefühllosem Sex kannte ich mich gut aus. Er half nie, um mir Johannes aus dem Kopf zu schlagen und dennoch hatte ich ihn in den vergangenen Jahren sehr häufig.
"Ich finde aber schon, dass er sehr verliebt wirkt, wenn ich euch so sehe, wie heute Abend", wollte ich sie trösten, auch, wenn ich mir dabei total dämlich vorkam. Klar, ich kannte Anna jetzt auch schon ein paar Jahre, wir waren enge Freunde und niemand von uns war irgendwie verklemmt, aber da wir über einen Mann sprachen, den wir beide liebten, war diese Situation sehr unangenehm für mich.
"Um ehrlich zu sein, weiß ich nicht, wann er das letzte mal so zu mir war, wenn wir nicht unter Menschen waren", seufzte sie leise und lehnte sich gegen mich. Ich legte meinen Arm um sie und schwieg einfach. Sie tat mir leid, aber diese Informationen, die sie mir gerade gegeben hat, musste ich erst einmal verarbeiten. Keine Ahnung, ob Johannes' Verhalten ihr gegenüber irgendwas mit mir zu tun hatte - ich hoffte es irgendwie, aber Hoffnung war in letzter Zeit nicht gerade mein bester Freund.
"Es ist kalt, wir sollten rein. In einer halben Stunde stehen wir eh wieder hier draußen", sagte ich und Anna nickte.

"Noch zwei Minuten!", rief Kris, als wir um kurz vor Mitternacht alle auf dem Dach standen. "Wo ist der Sekt?" - "Johannes wollte den holen", antwortete Steffi. "Jakob, kannst du ihm gerade helfen? Dann verteil ich die Wunderkerzen", wandte sie sich an mich. Stumm nickte ich und ging die Feuertreppen nach unten zurück in Kris' und Steffis Wohnung. Ich bog in die Küche und stieß direkt mit Johannes zusammen, der mir und sich selbst dabei Sekt überschüttete, ehe er die Gläser vor Schreck fallen ließ: "Kannst du nicht aufpassen?", fuhr er mich zischend an, als er sich hinhockte, um die Scherben aufzuheben. "Lass liegen, es ist gleich soweit - dann feiern wir halt erst später mit Sekt ins neue Jahr." Ich wollte friedlich mit Johannes in 2014 starten, weshalb ich ruhig sprach und ihn wieder auf die Beine zog. "Na komm, lass uns zu den anderen", sagte ich und griff einfach ohne jeglichen Hintergedanken nach seiner Hand.
Er zögerte, ließ sich dann aber von mir ziehen, bis wir plötzlich die anderen auf dem Dach den Countdown runterzählen hören konnten. "Scheiße, wir müssen uns beeilen", fluchte ich und wollte gerade die Treppe wieder hoch sprinten, als Johannes mich zurückhielt: "Warte", sagte er. Er kam einen Schritt auf mich zu und musterte kurz nervös mein Gesicht. Dieser Blick war der einzig friedliche seit meinem Geburtstag und mein Herz begann direkt, wie wild zu schlagen. Ich spürte, wie Johannes seine Hand an meine Wange legte und mir mit seinem Gesicht immer näher kam, bis er mich zaghaft küsste. Ich wehrte mich nicht - warum auch? - und zog ihn stattdessen nur näher an mich ran, während ich mich selber an das Treppengeländer lehnte. Zwischen unsere Körper hätte kein Blatt Papier mehr gepasst. Alles um uns herum schien meilenweit entfernt und das "3...2...1...frohes neues Jahr!" unserer Freunde auf dem Dach und die ersten Raketen, die in die Luft schossen, schienen ganz weit weg.

Für mich gab es in diesem Moment nur Johannes, mich und diesen perfekten, vorsichtigen und dennoch bestimmten Kuss. Mir schien das Treppenhaus plötzlich, wie der romantischste und schönste Ort der Welt und es hätte mir nichts ausgemacht, wenn diese einfach stehen geblieben wäre.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt