Kapitel 15

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"Jakob, wach auf", weckte Niels mich am nächsten morgen sanft. Wir schienen beide wohl mitten in einem Film eingeschlafen zu sein. Ich wälzte mich auf den Rücken und sah den Gitarristen vor dem Sofa stehen: "Moin", begrüßte er mich mit kratziger Stimme. Ich nickte nur, da ich definitiv noch zu müde war, um irgendwas zu sagen. "Kaffee?" Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er in meine Küche, ich schlurfte ihm hinterher und ließ mich auf einen Stuhl fallen.
"Unternehmen du und Nicci was an Weihnachten?" - "Heiligabend verbringen wir zu zweit. Am ersten Weihnachtstag ist ihre Familie dran, am zweiten sind wir dann bei meiner. Nichts besonderes also. Und bei dir?" - "Ich bin mit Lukas die Feiertage über bei unseren Eltern. Darauf warten die schon seit Jahren und wir wollten ihnen mal eine Freude machen." - "Gut erzogene Kinder, die Sinns", schmunzelte Niels und setzte sich mir gegenüber.
"Silvester bist du aber mit bei Kris und Steffi dabei?" Ich zuckte mit den Schultern. Keine Ahnung, ob ich mir Annas und Johannes' Geturtel zumuten wollte. "Du kannst dich nicht ewig verstecken." - "Ich dachte, ich soll Johannes die Zeit geben." - "Es ist noch über eine Woche hin; das sollte reichen." - "Wenn du meinst..."

Nach dem Frühstück brach Niels wieder zu sich nach Hause auf, ich bedankte mich bei meinem Freund, eben dafür, dass er mir ein so guter Freund war und wir wünschten uns Frohe Weihnachten, die wir beide haben sollten.
Noch am gleichen Tag packte ich meinen Koffer und wurde von Lukas abgeholt, den ich einfach schon viel zu lang nicht mehr gesehen hatte und erst bei seiner Anwesenheit merkte, wie sehr mir die Quasselstrippe gefehlt hatte. Schon auf der Autofahrt zu dem abgelegenen Haus unserer Eltern, in dem wir beide aufgewachsen waren, merkte ich praktisch jeden Kilometer, der zwischen Johannes und mich gebracht wurde. Mit jedem Kilometer fielen ein paar der schweren, grauen Gedanken und Erinnerungen ab, die in meinem Kopf umher waberten.
Es war wirklich schön, mal wieder ein wenig Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Raus aus Hamburg, weg von allem, was mich belastete und umgeben mit warmem Gelächter und Geborgenheit; dem Gefühl von Familie eben.
Ich konnte tatsächlich die Feiertage genießen und verschwendete keinen einzigen Gedanken an die Geschehnisse und an Johannes. Erst, als ich Heiligabend nach einer langen, fast ewigwährenden Spielerunde allein in meinem alten Zimmer saß und die typischen Weihnachts-Glückwünsche-SMS laß - von allen, außer Johannes, wie es sonst jedes Jahr ein fester Brauch war. Sein Kontaktname blieb still und schob sich in der Liste unbemerkt nach unten.
Der kleine Urlaub tat mir so gut, dass ich ihn, zur Freude meiner Eltern, um noch ein paar Tage verlängerte und die Erholung auslebte, in denen ich gemeinsam mit meiner Familie alte Traditionen wieder aufleben ließ.
Bis ich schließlich doch wieder zurück musste. Ich hatte Johannes in meinem Kopf schon so weit nach hinten, in die letzte Ecke, gestellt, dass es mich wie ein kalter Schlag ins Gesicht traf, als ich plötzlich wieder in meiner Hamburger Wohnung stand und ihm in wenigen Stunden bereits gegenüber stehen musste. Ob ich schon wieder bereit dazu war? Ich beschloss, mich nicht gleich wieder wahnsinnig zu machen und abzuwarten, was passierte. Vielleicht tat ihm der Abstand ebenso gut wie mir, vielleicht hatte er sich abgeregt. Vielleicht konnten wir nun wieder normal miteinander umgehen, wie Freunde, vielleicht sogar fast wie früher. Vielleicht wollte ich das nicht, doch das war ein Vielleicht zu viel, auf das es ankam.

"Ich wusste, du würdest dich richtig entscheidest", grinste Niels, als er mich abholte. "Haben dir die Tage gut getan?" - "Ich denke schon", murmelte ich unsicher. Bei dem Gedanken daran, Johannes gleich wieder zu begegnen und dann auch noch mit Anna, rückte die schöne Zeit bei meinen Eltern in den Hintergrund.
"Hat Johannes sich bei euch irgendwie gemeldet?", fragte ich im Auto. Nicci ist bereits vorgefahren, um Steffi und Kris bei den letzten Vorbereitungen für die kleine Party zu helfen. Ich machte mir schon ein wenig Gedanken, da Johannes bei unserer letzten Begegnung nicht er selbst war und da ich nichts von ihm gehört hatte - was in irgendeiner absurden Hinsicht auch verständlich war - wollte ich sicher gehen, dass es ihm gut ging. Niels nickte: "Ja, wir haben uns ein paar mal gesehen, geschrieben oder so. Er hat sich nichts anmerken lassen, falls du darauf hinaus willst." Er sah kurz zu mir rüber, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte und ich gedankenverloren aus dem Fenster starrte.

"Kopf hoch, Jakob. Das wird ein guter Abend!", sagte Niels, als wir ankamen und ausstiegen. "Bestimmt", versuchte ich optimistisch zu klingen und erntete ein breites Grinsen von dem Gitarristen.
Er ging die Treppen hoch und ich folgte ihm. Mit jeder weiteren Stufe verstärkte sich das flaue Gefühl in meinem Magen und ich wurde immer nervöser. Niels klingelte und von innen hörte ich bereits lautes Gerede und Gelächter. Johannes' wunderschönes Lachen stach sofort heraus und ich musste tatsächlich kurz lächeln.
"Endlich ihr zwei!", begrüßte uns Kris, umarmte uns beide schnell und schickte uns durch. "Dann kann es jetzt ja losgehen!"
Ich betrat nach Niels das Wohnzimmer; mein Blick fiel direkt auf Johannes, dessen Lachen sofort gefror. Er räusperte sich, sah nervös in irgendwelche anderen Richtungen und legte seinen Arm um Anna neben ihn.
"Ignorier ihn einfach und hab Spaß", flüsterte mir Niels zu und drückte mir ein Bier in die Hand. "Aber betrink dich nicht", ermahnte er mich noch schmunzelnd.

Der Abend verlief wirklich lustig. Ich hielt mich, was den Alkohol betraf, zurück, sodass es nur bei drei Bieren blieb. Hier und da kam noch ein Kurzer dazwischen, aber nur das harmlose Zeug.
Es entging mir nicht, dass scheinbar auch Johannes auf den Alkohol verzichtete - komplett. Bei meiner Ankunft hatte er noch eine Bierflasche in der Hand gehabt, die er allerdings nach einigen Minuten noch halbvoll wegstellte. Wahrscheinlich hatte er keine Lust auf eine Wiederholung von meinem Geburtstag - im Gegenteil. Er turtelte in einer Tour mit Anna rum, sie lachten viel, küssten sich andauernd und bei jeder Gelegenheit legte Johannes von hinten seine Arme um seine Freundin. Auch, wenn Niels meinte, ich solle es ignorieren, konnte ich es nicht vermeiden, ständig zu dem so glücklich wirkenden Paar zu gucken. Ich fragte mich dabei, wem Johannes dabei etwas beweisen wollte. Wollte er mir oder sich selber etwas vormachen?

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt