Kapitel 104

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Wir küssten uns.

Johannes küsste mich, als ob er all die vergangenen Monate wieder gut machen wollte.
Ich küsste Johannes, als ob ich ihm bereits alles verziehen hätte.
Wir küssten uns, als ob es nur uns auf dieser riesigen Welt geben würde. Als ob nur wir zählten. Als ob wir uns nichts sehnlicher wünschten, als einander zu küssen.

Das Feuer auf unseren Lippen, das bei jedem unserer damaligen Küssen gelodert hatte, war wieder zu spüren, es war noch längst nicht erloschen. Nichts konnte dieses einnehmende, atemberaubende Gefühl, welches den Schwindel in meinem Körper ersetzte, dämpfen; nicht das Risiko, dass uns jederzeit jemand hätte sehen können. Nicht die Tatsache, dass ich einen Freund hatte. Nicht der Fakt, dass ich das zwischen Johannes und mir eigentlich für immer als beendet bezeichnet hatte.
Doch Johannes war es einfach seit unserer Begegnung und er war es immer noch. Und irgendetwas verriet mir, dass er es immer sein würde. Das, was ich wollte, liebte, begehrte.

Meine Hände vergruben sich immer weiter in seinen weichen, braunen Haaren, zerrten sanft daran, während Jos kühle Hände an meinem Hals lagen und er sich immer näher an mich presste. Es war kein vorsichtiger, romantischer Kuss; er was gierig, leidenschaftlich, sehnend und dringend.
Von einem Knarschen der alten Holzbank begleitet und ohne die Lippen von denen des jeweils anderen zu nehmen, standen wir - geführt von unseren dominierenden Gefühlen - auf und Johannes drückte mich sanft in eine Richtung, als ob er ganz genau wusste, wohin er wollte.

Ziegelsteine drückten sich in meinen Rücken, als wir zum Stehen kamen und Johannes sich meinem Kiefer, meinem Hals und meinen empfindlichsten Stellen dort entlangküsste, wodurch ich die Chance hatte, einen kurzen Blick in unsere neue Umgebung zu wagen. Es war fast stockdunkel, kaum etwas war zu erkennen, doch die Musik aus der Bar war immer noch leise zu hören; ich vermutete, in einer nahegelegenen Seitengasse oder einer - um dieser Uhrzeit verlassenen - Fußgängerzone zu sein. Doch mehr wollte ich mich damit nicht beschäftigen; es war mir egal, wo ich war, denn dort war ich auf jeden Fall mit Johannes und das genügte. Der Rest war unwichtig.
Ich legte meinen Kopf in den Nacken, schloss die Augen und genoss einfach das, was Johannes mich mit seinen Zärtlichkeiten und seinen kleinen Küssen fühlen ließ.
Jos Hände wanderten an meiner Seite hinab, bis zu meiner Hüfte, wo sie sich unter mein Shirt schoben, und als ich plötzlich seine Lippen wieder auf meinen spürte, drückte er sein Becken provokant gegen meines und bohrte seine Fingernägel in meine Haut, was mich leise aufstöhnen ließ.
Es war, als ob Johannes in diesem Augenblick nichts auf dieser Welt sehnlicher wollte als mich. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit.

Ich war diesem Mann, der meinen durch den vielen Alkohol beschränkten Verstand clever ausnutzte, hoffnungslos verfallen, konnte und wollte mich gegen keiner seiner Handlungen wehren und allerspätestens, als Jo mir sanft auf meine Unterlippe biss, war Rick endgültig vergessen.
"Johannes", keuchte ich flehend gegen seine Lippen, ohne zu wissen, was ich überhaupt wollte, doch da brachte er mich schon wieder auf die schönste Art und Weise zum Schweigen.
Ohne nachzudenken widmeten sich meine Hände seinem Gürtel, jedoch hatte ich ihn nicht einmal ganz öffnen können, ehe Johannes ruckartig einen Schritt zurückging.

"Wa-was soll das?", fragte ich mit rasselndem Atem und undeutlicher Aussprache und augenblicklich breitete sich Panik in mir aus, dass ich mir Johannes' Verlangen nur eingebildet hatte und all das eben nur von meine Seite aus gekommen ist. Seine Lippen formten sich für einen klitzekleinen Moment zu einem winzigen Lächeln, bevor er zu sprechen begann:
"Denkst du wirklich, Jay, ich würde nach all der Zeit - nach all den Fehlern - hier mit dir in dieser Gasse schlafen? Während du auch noch so betrunken bist?" Seine Atmung ging flach, sein Brustkorb hob und senkte sich schneller als gewöhnlich und mein Gehirn ratterte wie wild, um die Situation zu verstehen, doch mich überkam erneut der starke Schwindel, als ob Jos Lippen die einzige Medizin dagegen gewesen wären.
"So sehr ich dich, deine Küsse und Berührungen auch vermisse, aber auf diese Art und Weise möchte ich das nicht." - "Wieso hast du es dann überhaupt erst soweit kommen lassen?" Nichts ergab gerade für mich Sinn, ich tastete hinter mich an die Wand, an die ich noch gelehnt war, und hielt mich so gut es ging an einem der Ziegelsteine fest, um mein Gleichgewicht halten zu können.
"Weil ich wollte, dass du verstehst, wen du eigentlich willst. Dass du mir eine neue Chance geben kannst. Dass wir von vorne anfangen können. Jay. Da ist immer noch etwas zwischen uns, das niemand leugnen kann. Denk mal darüber nach."
Eine kleine Falte bildetet sich zwischen Jos Brauen, während er energisch auf mich einredete und ich einfach nur verwirrt seinem Wortschwall lauschte. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich war enttäuscht, wütend, verletzt und fühlte mich ertappt.
Ich wusste nicht mal, was schlimmer war; die Tatsache, dass ich immer noch nicht über Johannes hinweggekommen bin und mich immer noch nach ihm sehnte, oder dass er genau das wusste, es ihm gefiel und er die richtige Strategie hatte, um das am besten auszunutzen.

Er ließ mich zurück. Ohne nochmal etwas zu sagen, musterte er intensiv mein Gesicht, ehe er umdrehte und mich alleine in der Gasse ließ, in der ich am liebsten auf ewig geblieben wäre, um mich vor der Realität zu drücken. Doch ich wusste, dass genau das unmöglich war und selbst wenn, dann wäre es definitiv die falsche Lösung.
Schwankend machte ich mich zurück zur Kneipe, wo mich direkt stickige, nach Bier stinkende Luft in Empfang nahm, bevor sich plötzlich zwei starke Arme  von hinten um meinen Hals schlangen und ich einen vertrauten Geruch gemixt mit Duftnoten sämtlicher Schnapssorten wahrnahm: "Wo hast du gesteckt?", flüsterte Rick mir süß ins Ohr und schmiegte sich dabei noch enger an mich, sodass zwischen seinem Bauch und meinem Rücken kein Blatt Papier mehr gepasst hätte.
"Nur etwas frische Luft schnappen." Diese Erklärung war zumindest nicht gelogen; das ein oder andere eventuell erwähnenswert Detail habe ich lediglich ausgelassen. Ich drehte meinen Kopf soweit, dass ich Rick einen Kuss geben und er anschließend mein schwaches Lächeln sehen konnte.
"Geht's dir nicht gut? Sollen wir nach Hause?"
Ich wollte gerade widersprechen, als mein Blick den von Johannes auffing. Dieser stand nur wenige Meter von uns entfernt am Tresen angelehnt und beobachtete uns mit einer Mischung aus Skepsis, Amüsement und Herausforderung.
Ich drehte mich in den Armen meines Freundes, legte meine Hände auf seine Hüften und küsste ihn gierig. Man könnte diese Küsse fast schon als leidenschaftlich bezeichnen, jedoch fehlte mir dazu jegliche Leidenschaft. Sie dienten einfach nur, um ihn und seine Küsse, die immer noch auf meinen Lippen brannten, zu vergessen.
"Es geht mir bestens, aber wir könnten ja vielleicht trotzdem nach Hause", raunte ich schließlich, was ein dreckiges Grinsen auf Ricks Gesicht hinterließ.


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Ich habe das Gefühl, dass ich mich für dieses ständige Auf und Ab entschuldigen muss, also tue ich das an dieser Stelle: Es tut mir leid 🙄
Allerdings ist diese Story sehr bald vorbei und da die ganze Geschichte aus einer einzigen Berg-Tal-Fahrt bestand, müssen die letzten Kapitel sich diesem Niveau selbstverständlich anpassen und nochmal für ordentlich Gefühlschaos sorgen 🙄😅
Naja, wie gesagt; bald haben wir's alle überstanden😌

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt