Kapitel 56

306 20 4
                                    


Sascha verschwand irgendwann mit seinem Handy am Ohr in den oberen Teil des Busses, während Johannes und ich noch ein wenig in der Nische sitzen blieben und er sich an mich schmiegte. Noch einmal wollten wir die Nähe des anderen in Ruhe genießen können, bevor der riesige Trubel losgehen würde. Deshalb schwiegen wir auch die meiste Zeit; ich strich ihm über seinen Arm und zeichnete mit meinem Finger irgendwelche Muster auf seiner Haut.
"Ich frag' mich, was schlimmer ist", nuschelte Johannes nach einer Weile, als ich schon längst dachte, er wäre eingeschlafen. "Auf Tour zu sein und seine Freundin bzw. seinen Freund 'ne Zeit lang nicht zu sehen, oder mit dieser Person zusammen unterwegs zu sein, sie aber nicht pausenlos berühren oder küssen zu können." Im nächsten Moment schob er sich selbst auf meinen Schoß und umfasste mein Gesicht. Sein Atem prallte federleicht gegen meine Haut, während seine dunklen Augen mich in ihren Bann zogen und es mir fast unmöglich machten, Johannes nicht auf Anhieb die Klamotten vom Leib zu reißen. Stattdessen verwickelte ich ihn in einen leidenschaftlichen Kuss, auf dem er allem Anschein nach nur gewartet hatte.

Würg-Geräusche ließen uns jedoch irgendwann auseinanderfahren. Chris stand circa zwei Meter von uns entfernt, steckte sich demonstrativ seinen Finger in den Hals und krümmte sich würgend. "Du kannst aufhören; wir haben dich bemerkt, Roderich." Augenblicklich richtete der Bassist sich wieder auf und nickte zufrieden. "Na, Gott sei dank. Habt ihr die Regel etwa schon wieder vergessen?", lachte er und schnappte sich aus einer Kiste Wasser eine Flasche. "Nein, keine Sorge", beruhigte ich ihn und drückte Johannes, der versuchte, seine Haare wieder zu richten, sanft von meinem Schoß. "Besser ist es. Ich vermute, Kris würde ernst machen und euch wirklich laufen lassen. Aber - da ihr es scheinbar nicht gemerkt habt; wir sind seit zehn Minuten in Köln angekommen. Das erste Interview wartet auf euch." Mit aufgerissenen Augen schnellte mein Kopf in Johannes' Richtung, welcher mich mindestens genauso geschockt ansah, ehe wir beide aus dem Bus eilten - oder eher stolperten -, um nicht allzu spät zu kommen und einen genervten Blick von Sascha zu vermeiden; vergeblich.

Am Abend fand dann endlich das Konzert statt. Unser erstes Konzert als Revolverheld, seit einer gefühlten Ewigkeit. Wir waren tierisch nervös und tigerten im Backstagebereich auf und ab, während der Voract auf der Bühne gerade nochmal alles gab und den Fans ordentlich einheizte. Als dieser allerdings verstummte und sich zu verabschieden schien, war klar, dass unser Auftritt kurz bevor stand. Der Umbau würde nur wenige Minuten dauern.
"Mir ist übel", murmelte Niels, als er sich auf die Lehne eines schwarzen Ledersessels fallen ließ und sein Gesicht in seinen Händen vergrub. "Hey, Mann, ganz locker." Johannes legte ihm seine Hand auf den Rücken und strich immer wieder darüber. Dafür war Johannes schon von unserem allerersten Auftritt an zuständig - egal wer dank der Nervosität kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand; Johannes versuchte, ihn zu beruhigen. Vermutlich half dies auch ihm, um etwas runterzukommen.
"Noch zwei Minuten." Der dürre Mann mit Vollbart, einem Headset und dem Shirt mit der Aufschrift 'Crew' verließ gehetzt den Raum, in dem wir uns befanden. Im Namenmerken, war ich noch nie sonderlich gut. "Okay, Leute!" Kris klatschte einmal in die Hände und breitete schließlich seine Arme aus. Wir stellten uns in einem Kreis auf, steckten die Köpfe beisammen und Johannes sprach uns allen nochmal Mut zu. Ich bewunderte ihn für diese Art und Weise, wie er seine eigene Nervosität so gut verstecken und anderen ihre so gut nehmen konnte. Ein verliebtes Lächeln huschte auf mein Gesicht und ich driftete mit meinen Gedanken vollkommen zu Johannes' Lippen, die ich in diesem Moment so gerne geküsst hätte, ab, sodass ich fast unseren Einsatz beim Schreien von "Rock'n'Roll!" verpasste - aber eben nur fast.

Das Konzert war unglaublich. Ich hatte schon fast das Gefühl vergessen, wie es ist, auf der Bühne zu stehen, vor so vielen Menschen zu spielen und sie mitzureißen. Es machte so unfassbar Spaß und ich wollte gar nicht mehr aufhören, war fast schon enttäuscht, als wir das letzte Lied spielten, ehe wir uns vom laut jubelnden Publikum verabschiedeten und schweren Herzens die Bühne verließen.
Natürlich wurde dieser gelungene Auftakt direkt begossen und wir stießen mit der gesamten Crew an, tranken, lachten, ließen das Konzert Revue passieren. Spätestens jetzt herrschte nur noch pure Vorfreude auf die kommenden zwei Wochen, die mit solchen Abenden gefüllt sein würden.

"Wo ist Johannes?", fragte Sascha mich gegen halb zwei nachts. Ich sah mich um und zuckte mit den Schultern; ich hatte ihn tatsächlich schon eine Weile nicht mehr gesehen. "Ich meine nur; in einer halben Stunde sollten alle im Bus sein - dann geht's weiter." - "Ich schau' mal nach ihm. Ich kann mir schon denken, wo er ist", gab ich zurück, stellte meine Bierflasche beiseite und ging schonmal vor zum Tourbus.
Wie erwartet fand ich Johannes friedlich schlafend in seiner Koje direkt über der von Niels'. Jener trug immer noch seine Jeans und sein Hemd; er war wohl viel zu müde gewesen, um sich umzuziehen. Ich stützte meine Arme auf den Rand seiner Koje und strich ihm vorsichtig über seine Wange; ich war froh, dass er scheinbar endlich mal wieder einen erholsamen Schlaf fand, den er in den letzten Nächten vor lauter Aufregung überhaupt nicht bekommen hatte. "Schlaf schön, mein kleiner Rockstar", flüsterte ich und stellte mich auf Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. Gerade, als ich mich wegdrehen und mich umziehen wollte, legte Johannes seine Hand auf meine, die sich immer noch am Rand seiner Koje befand. "Ich liebe dich", murmelte er in sein Kissen und drückte dabei schwach meine Hand. Ich war mir nicht ganz sicher, ob er wirklich bei vollem Bewusstsein war oder sich nicht nur in irgendeinem Traum befand, doch ich lächelte, wisperte ein "Ich liebe dich auch", bevor ich mich umzog und mich in meine Koje legte. Es fühlte sich seltsam an; alleine im Bett zu liegen und einschlafen zu müssen, doch meine Müdigkeit siegte und so zog sie mich nach ein paar Minuten in einen festen Schlaf. So fest, dass ich nicht einmal mitbekam, wie die anderen ebenfalls zurück in den Bus kamen und dieser losfuhr.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt