Kapitel 19

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Wütend und ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stürmte ich aus Johannes' und Annas Wohnung in Richtung Taxistand. Auch, wenn ich todmüde war, wäre es nicht richtig gewesen, bei den beiden auf dem Sofa zu schlafen - das hätte mir direkt klar sein müssen.
Doch erst Johannes' 'Angebot', wie wir am besten am nächsten Tag gemeinsam verschwinden, um etwas Zweisamkeit zu haben, ließ mich Niels' Worte erst richtig verstehen.
Es war Anna gegenüber alles andere als fair und wir sind bereits an meinem Geburtstag viel zu weit gegangen. Aber das ist noch mal etwas anderes gewesen, als so etwas - oder eventuell auch mehr - im vornherein zu planen. Und was dachte sich Johannes eigentlich, wie er mit mir umgehen kann? Er schnippst mit dem Finger, wenn er sich eine Ausrede hat einfallen lassen, und ich spring ihm an den Hals?
Ich war wirklich naiv, wenn ich je gedacht hatte, dass es einfach werden würde, sobald Johannes' sich und mir seine Gefühle irgendwie eingesteht. Er versuchte mich in der Nacht noch ein paar Mal anzurufen, doch ich drückte ihn jedes mal weg; er sollte über das nachdenken, was ich gesagt hatte.

In meiner Wohnung angekommen, schaltete ich mein Handy aus, um wirklich Ruhe zu haben und ließ mich anschließend sofort ins Bett fallen, wo mir direkt die Augen zufielen - selbst die Wut und die Trauer über Johannes' Dummheit konnten mich nicht am schnellen Einschlafen hindern.
Erst am frühen Nachmittag wachte ich auf. Draußen war es trüb; kein Wunder für den ersten Januar - und dann auch noch im eh immer tristen Hamburg. Die einst schöne Schneedecke über diese Stadt, ähnelt eher Matsch, als alles andere und ich hoffte auf Neuschnee, der meine Stimmung vielleicht wieder besser machen würde, als dieser ekelhafte Schneeregen da draußen.

In Gedanken hing ich den ganzen Tag über bei letzter Nacht; dem Gespräch mit Anna, Johannes' Küsse, die kleine Auseinandersetzung, zu der er eigentlich gar nichts gesagt hatte - alles spielte sich ein zweites, ein drittes und schließlich ein viertes Mal vor meinen Augen ab. Und ich konnte es immer noch nicht begreifen, wie ich erstens wohl so dumm war, dass ich dachte, alles könnte so einfach und schön werden, sobald Johannes meine Gefühle erwidert, und zweitens, wie Johannes dazu bereit war, seine Freundin vorsätzlich zu betrügen. Die anderen Küsse sind einfach so passiert und dafür kann man ihm vielleicht keine direkten Vorwürfe machen, aber sein Vorschlag letzte Nacht war einfach falsch und unüberdacht.

Ich schaltete mein Handy wieder an; er hatte noch ein paar mal versucht mich zu erreichen, doch erst jetzt rief ich zurück - Mailbox: "Hey, hier ist Jakob. Ehm... Ich denke du verstehst, dass ich letzte Nacht einfach gehen musste", meine Stimme klang kalt und ich wusste nicht einmal, was ich sagen sollte. "Vielleicht könnten wir nochmal in Ruhe reden, überlegen, was wir jetzt machen...keine Ahnung. Meld' dich."
Ich legte meinen Kopf in den Nacken und seufzte; er musste entscheiden, was er will. Wen er will.
Doch auch am späten Abend hatte er noch nicht zurückgerufen, keine SMS geschrieben oder sonst was. Ich wartete ungeduldig auf irgendein Lebenszeichen, aber vergebens.

Johannes meldete sich auch am darauffolgenden Tag nicht und ich begann mir ernsthaft Sorgen zu machen.
Ich entschloss mich am 03. dazu, ins Studio zu fahren und ein paar neue Sache auszuprobieren und tief im Inneren hoffte ich darauf, Johannes dort anzutreffen - Fehlanzeige.
Stattdessen saß Kris mit seiner Gitarre auf dem Schoß in der Ecke: "Hey", begrüßte er mich überrascht, als er mich wahrnahm. "Moin", gab ich nur zurück und legte meinen Mantel ab: "Auch ein bisschen am Tüfteln?" Er zuckte mit den Schultern, nickte aber gleichzeitig. "Wir könnten doch 'ne kleine spontane Session mit der Band machen, oder nicht?", schlug ich vor; im Hinterkopf immer den Gedanken, mit Johannes reden zu können.
"Weißt du's nicht?" Kris runzelte skeptisch die Stirn und ich sah ihn fragend an: "Was meinst du?" - "Johannes ist für'n paar Tage weg", erklärte er mit zusammengezogenen Augenbrauen und ich bemühte mich, nicht all zu verwirrt auszusehen: "Achso?", sagte ich stattdessen und verschwand im Nebenraum, um Kris' Blicken auszuweichen.
"Wohin denn?" - "Strand; irgendwo, wo's warm ist. Haben Anna oder er dir echt nichts gesagt?" - "Ach, er ist mit Anna weg?", hakte ich nach, wobei ich möglichst gelassen klingen wollte, obwohl mein Herz einem fast unerträglichem Schmerz ausgesetzt war. "Ja, sie sind gestern Abend los." Ich ging zurück zu Kris, setzte mich auf einen Stuhl und nickte.

"Ist gerade eh komisch bei euch, hm?" - "Inwiefern?", fragte ich wohl etwas zu nervös, woraufhin Kris noch skeptischer wirkte. "Weiß nicht...Es wirkt momentan alles seltsam." - "Ich weiß nicht, wovon du redest", sagte ich und zuckte beiläufig mit den Schultern.
"Wann kommen sie denn wieder?" Der Kloß in meinem Hals erschwerte mir das Reden und ich spürte, wie mir Tränen in die Augen schossen, weshalb ich jede Gelegenheit nutzte, Kris nicht anschauen zu müssen. Dieser zuckte mit den Schultern: "Er meinte, sie werden ein paar Tage weg sein, aber wie lange genau, wüsste er selbst noch nicht. Er hat sich das ja auch erst gestern früh überlegt - ich schätze mal, wegen Annas Totalabsturz. Das war bestimmt nicht grundlos und er will sie auf andere Gedanken bringen." - "Ja, wahrscheinlich hast du Recht", antwortete ich und zwang mir ein Lächeln auf.

Natürlich hatte er nicht Recht; vielleicht war das ein kleiner Mitfaktor oder der Grund, den er Anna genannt hatte, um sie zu überreden. Aber er ist gefahren, um eine Entscheidung zu treffen. Um zu prüfen, ob er nicht vielleicht doch noch irgendetwas für Anna empfinde. In der Hoffnung, dass genau das der Fall ist und er nicht der unangenehmen Situation ausgesetzt ist, sich zu outen.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt