Kapitel 50

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Es war der Dienstag acht Tage vor der Tour. Die erste Tournee, seitdem Revolverheld wieder vereint war und sie würde gigantisch werden. Die Vorfreude könnte so groß sein, wenn die Sorge der Anderen um mich nicht jene dämpfen würde. Ich lag hellwach in meinem Bett; Johannes friedlich schlafend neben mir. Die Spuren in seinem Gesicht, die Lukas dort hinterlassen hat, waren zwar verblasst, allerdings immer noch deutlich erkennbar. Vorsichtig und ohne ihn zu wecken, legte ich meine Hand an seine Wange, strich mit meinem Daumen darüber und berührte schließlich ganz sanft seine Lippen mit meinen. Ich dankte Gott für Johannes' festen Schlaf, als er auch nach einem geflüsterten "Ich liebe dich" nicht aufwachte und ich mich leise aus dem Zimmer stehlen konnte. Ich wollte alleine sein und Johannes ließ mich seit dem Vorfall bei meinen Eltern kaum mehr aus dem Auge.

Als ich mich los zu einem Spaziergang machte, war die Stadt noch wie leergefegt und der Himmel über mir in ein warmes Sonnenaufgang-Orange gefärbt. Ich genoss die Stille der sonst so lauten Stadt und sog meine Lungen einmal kräftig mit der kühlen Luft voll. Meine Beine trugen mich mehrere Kilometer weit, ohne dass ich ein bestimmtes Ziel vor Augen hatte und so fand ich mich nach zwei Stunden Fußmarsch und lauter kleinen Umwegen in der Nähe der Musikhochschule wieder. Genauer gesagt auf der kleinen Brücke, auf der ich damals mit Johannes gestanden hatte und ich ihn dazu überzeugen konnte, zu einer unserer Proben zu kommen. Ich schmunzelte bei der Erinnerung an unseren Handschlag; es war das erste mal, dass mich eine seiner Berührungen wie elektrisiert hat fühlen lassen. Heute war dieses Gefühl noch längst nicht erloschen, jedoch hatte ich es aufgrund der Häufigkeit nicht mehr so wertgeschätzt, obwohl ich das wirklich tun sollte.

Ich lehnte mich gegen das Brückengeländer - ungefähr die Stelle, an der ich damals meine allererste und allerletzte Zigarette geraucht hatte und fast daran erstickt wäre; zumindest hat es sich so angefühlt. Mein Blick schweifte zur Seite, wo Johannes gestanden hatte, und ein kleines Lächeln legte sich auf meine Lippen. Ich hatte wieder das Bild von ihm vor Augen; wie er sich desinteressiert mit mir unterhielt, über mich spottete und hin und wieder lässig an seiner Zigarette zog. Er hatte schon immer etwas faszinierendes an sich gehabt; selbst wenn er alltägliche Dinge tat, war ich überwältigt von der Art und Weise, wie er die Dinge ausübte.

Die Erinnerung an damals verschwommen und ich schweifte mit meinen Gedanken zurück zu dem Abend bei meinen Eltern, zu Lukas und seinen Worten. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und dachte an all das, was passiert ist, nachdem ich meine Gefühle für Johannes nicht mehr unter Kontrolle hatte. "Es ist alles deine Schuld, Jakob", murmelte ich zu mir selbst und schaute dabei hinab auf den reißenden Fluss unter mir, der mich auf skurrile Art und trotz gefährlich aussehender Stärke beruhigte, beugte mich weiter vor und atmete tief durch, während mein Selbsthass wuchs und meine Muskeln und jeglicher Wille schwanden: "Es tut mir so leid."

Plötzlich packte mich jemand an meiner Schulter und riss mich gewaltsam vom Geländer: "Was soll das?!" Ich blickte direkt in Niels' blaue Augen, die mich wütend anfunkelten. Stotternd sah ich zwischen ihm und der Stelle, an der ich gerade noch gestanden hatte, hin und her, bis Niels' Ausdruck plötzlich viel sanfter wurde, und ich in eine feste Umarmung gezogen wurde: "Das ist keine Lösung, Jakob", flüsterte der Gitarrist, während er mir über den Rücken strich, ich einfach nur nach vorne starrte und meine Arme schwach neben meinem Körper baumelten. Ich fühlte mich nicht dazu in der Lage, diese Umarmung zu erwidern; zu groß war das Wirrwarr in meinen Kopf und zu schwach meine Muskeln. Und so standen wir noch lange dort auf der Brücke, Niels' starke Arme um mich, seine warme Stimme an meinem Ohr, die mir Sicherheit versprach und mein schlechtes Gewissen, das mich aufzufressen drohte.

Irgendwann setzten wir uns mit den Rücken an das Brückengeländer und beobachteten ein paar Vögel, die einige hundert Meter von uns entfernt ihre Kreise zogen. Immer wieder bemerkte ich, wie Niels zu mir 'rüberlugte, doch ich ignorierte es. Ich hing mit meinen Gedanken viel zu sehr bei dem, was sich hier eben abgespielt hatte.
"Johannes hat uns gebeten, dich zu suchen. Er ist aufgewacht, du warst nicht da und hast keine Nachricht hinterlassen. Er hat sich Sorgen gemacht...Zurecht, wie es scheint", unterbrach Niels unser Schweigen. Es lag keinerlei Vorwurf in seiner Stimme; nur pure Sorge und reinstes Mitgefühl. Ich schloss meine Augen - warum genau, wusste ich selbst nicht.

"Wolltest du dich wirklich umbringen?", sprach er dann irgendwann zögerlich die Frage aus, die schon die ganze Zeit in der Luft lag. "Ich bin nicht deswegen hier her gekommen. Es war nichts dergleichen geplant; das musst du mir glauben!" Ich öffnete meine Augen und sah direkt in seine, damit er erkannte, dass ich die Wahrheit sagte. "Aber hättest du es getan? Wenn ich nur 'n paar Minuten später hier gewesen wäre, wärst...Wärst du gesprungen?" Ich versuchte, irgendetwas zu sagen, doch ich brachte keinen Ton raus. Ich fuhr mir durch die Haare und brauchte noch ein paar Sekunden, bis ich ein "Nein" begleitet von einem Schulterzucken rausbrachte. "Ich habe diesmal nicht einmal darüber nachgedacht, wirklich nicht", schwor ich und Niels nickte erleichtert: "Es sah aber ganz schön danach aus und was du gesagt hast, klang...Warte! Diesmal?" Mein Atem stockte, als ich realisierte, was ich da eben gesagt hatte. Niels' Blick heftete an meinen Augen, als würde er mich auf diesem Wege zum Reden bringen wollen. "Was soll das heißen, du hast diesmal nicht daran gedacht?", bohrte er nach. Ich begann, zu schwitzen, wich ihm aus und starrte stattdessen nervös in der Gegend herum. Meine Finger krallten sich wieder in meinen Oberschenkel und ich wollte einfach nur noch weg von hier. Ich hatte es nie jemanden erzählt und jetzt habe ich mich selbst soweit reingeritten, dass ich keine andere Wahl hatte, als es Niels zu erzählen.

"Damals, als ich angefangen habe, mir einzugestehen, dass ich Johannes liebe, da... Ich dachte, irgendwas würde mit mir nicht stimmen. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben. Was würdest du tun, wenn plötzlich all deine Illusionen zerstört werden?" Ich drehte meinen Kopf zu Niels, der meinem Redeschwall gebannt zuhörte. Ich erwartete keine Antwort und so sprach ich einfach weiter: "Johannes hat damals eine Frau nach der anderen von irgendwelchen Partys oder Konzerten abgeschleppt und mit jeder weiteren Frau hab' ich den stechenden Schmerz in mir gefühlt. Ich...Ich hab' das irgendwann nicht mehr ertragen - all dieses Chaos und diese Schmerzen und das Gefühl, dass mich nie jemand verstehen könnte und dann... Ich wollte das einfach alles beenden." - "Du hättest mit mir reden können", flüsterte Niels; Tränen standen in seinen Augen und er griff nach meiner Hand, als würde er versuchen, mir den Halt zu geben, den ich mir damals selbst verwehrt hatte. "Ja, das weiß ich jetzt, aber früher..." - "Es tut mir leid, dass niemand etwas bemerkt hat, Jakob. Wir hätten dir alle geholfen und dich unterstützt." - "Nicht alle", murmelte ich und Niels' Seufzen zeigte mir, dass er die Anspielung auf meinen Bruder verstanden hatte.

"Was hat dich abgehalten?", fragte Niels ein paar Minuten später, nachdem er sich mit dem Handrücken über die Wangen gestrichen hat. Ich straffte die Schultern und sah sanft lächelnd zu ihm rüber: "Auch wenn ich mir sicher war, dass Johannes meine Gefühle nie erwidern würde, war er mir der beste Freund, den man sich wünschen konnte - wenn man mal seine egoistischen Aktionen beiseite lässt. Er und die Band, ihr habt mir die schönste Zeit meines Lebens verschafft und irgendwie wusste ich, dass es idiotisch wäre, das alles wegzuwerfen. Ich hab' also die Gefühle versucht zu verdrängen und mich irgendwie durchgekämpft." - "Denk' bloß nie wieder an so etwas, hast du mich verstanden?" Niels klang einerseits erleichtert, aber andererseits schwang auch eine Menge Sorge und vor allem Wut mit in seiner Stimme. Ich konnte ihn verstehen; ich würde genauso reagieren. "Ich verspreche es", flüsterte ich, Niels presste seine Lippen aufeinander und blinzelte seine Tränen weg, wobei ihm eine über seine Wange rollte: "Du bist nie allein, hörst du? Es wird immer jemanden geben, der für dich da ist, Mann. Auf uns kannst du immer zählen!", versprach er mit zittriger Stimme und ich wusste, dass er die Wahrheit sagte. Ich nickte dankbar und schlang wie ein kleines Kind meine Arme um seinen Oberkörper.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt