Kapitel 35

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An Schlaf war in dieser Nacht nicht zu denken; ich machte mir viel zu viele Sorgen darüber, ob Johannes vielleicht von Albträumen gequält werden würde und er eventuell davon aufwacht - in diesem Fall wollte ich einfach nur für ihn da sein. Doch er schlief überraschenderweise durch - wenn auch unruhig, aber immerhin. Sein Kopf ruhte die ganze Zeit auf meiner Brust, weshalb ich mich umso mehr bemühte, meine Atmung unter Kontrolle zu behalten, was gar nicht mal so leicht war, wenn einem die Tränen nur so über die Wangen strömten.

Etliche Szenarien spielten sich vor meinen Augen ab; Johannes und Anna als glückliche Eltern von einem gesunden Baby, das den beiden wie aus dem Gesicht geschnitten war. Wie Johannes das Kleine auf seinem Arm hält und ihm durch Kitzeln ein zuckersüßes Lachen entlockt, während alle drei Augenpaare leuchten. Der Stolz des Traumpaares war meilenweit zu sehen. Sie hatten eine wunderschöne Zukunft vor sich; als Familie.

Doch ich hatte all das verhindert. Ich hatte es nicht akzeptieren wollen, dass Johannes das alles hier nicht wollte. Dass er uns nicht wollte. Er wollte bei Anna bleiben, sich und ihr und allen anderen etwas vormachen und darauf hoffen, damit irgendwie glücklich zu werden. Ich hätte es dabei belassen sollen. Ich Dummkopf. Um jeden Preis wollte ich, dass Johannes sich seine wahren Gefühle endlich eingesteht und wir zusammen sein konnten. Als ich ihn die ersten Male geküsste habe, habe ich nie an Anna gedacht - erst, als es schon zu spät war. Ich war zu selbstsüchtig, sodass ich Annas Leiden und den Verlust eines gemeinsamen Kindes von ihr und Johannes in Kauf genommen habe. Ich wusste zwar nichts von dem Baby und ich hatte auch nie die Absicht, irgendjemandem wehzutun und doch hatte ich so viel Unheil angerichtet.

Plötzlich rührte sich Johannes. "Hey, bist du wach?", fragte ich leise und strich mir schnell über meine Wangen, um die Tränen wegzuwischen. Er murmelte irgendetwas unverständliches und drehte sich auf den Rücken. Er hatte tiefe Augenringe und sah wahrscheinlich schlimmer aus, als ich, obwohl ich nicht eine Minute lang geschlafen hatte.
"Bitte sag mir, dass das alles nur ein Albtraum war. Sag mir, dass es nie ein Kind gegeben hat." Er blickte mich an und in seinen Augen lag so viel Hoffnung und gleichzeitig das Wissen, dass ich lügen würde, würde ich ihm seine Bitte erfüllen. Erst, als sich dieses Wissen in sein Bewusstsein durchgedrungen hat, begann er wieder zu zittern und zu verkrampfen.

"Sieh mich an", bat ich ihn, als seine Hände sich erneut vor sein Gesicht legten. "Sieh mich an, Johannes." Meine Stimme klang dringender und ich versuchte, ihm in seine Augen zu sehen, doch es schien, als würde er mich nicht hören. Es war ein furchtbares Bild - Johannes versank innerhalb kürzester Zeit in seinen dunklen Gedanken und in Vorwürfen. Er glich einem Wrack, der die Kontrolle über sich selbst verloren hat.
Ich setzte mich auf ihn und zog gewaltsam an seinen Handgelenken: "Sieh mich an, verdammt!", schrie ich. Johannes erstarrte und schaute mich mit gläsernen Augen an.
"Wir fahren gleich zu Anna." - "Nein...", wimmerte er fast schon flehend. "Nein. Ich kann das nicht." - "Du hast keine andere Wahl; ihr müsst reden. Und dann hast du die Chance, jetzt für sie da zu sein. Ihr könnt euch gegenseitig Halt geben, es zusammen verarbeiten." - "Du bleibst aber, oder?" Seine Stimme klang flehend, fast schon ängstlich, ich würde nein sagen. Tatsächlich musste ich kurz überlegen, was das richtige wäre.

"Wenn du das willst, dann bleibe ich bei dem Gespräch dabei." Er schüttelte mit dem Kopf und ich runzelte verwirrt die Stirn: "Das meine ich nicht...Also ja, das will ich auch gerne, aber... Bleib bei mir." Ich lehnte mich runter und drückte meine Lippen auf seine Stirn: "Ich lass' dich nicht im Stich. Egal, wie schwer die nächste Zeit wird; ich bleibe bei dir. Ich verspreche es dir." Durch seine Augen konnte ich die riesige Last von seinem Herzen fallen sehen. Er nickte dankbar und legte seine Hände an meine Wangen, zog mich zu seinen Mund und küsste mich.
Es war kein Kuss aus Liebe. Dieser Kuss sollte seine Angst mindern; ich spürte es. Doch wenn dies die einzige Möglichkeit war, ihn irgendwie zu beruhigen, sollte es mir Recht sein und ich erwiderte mit gleicher Intensität, auch wenn es sich falsch anfühlte. Nicht so wie sonst. Nicht so echt. Einfach nicht richtig.

Anschließend schwiegen wir wieder. Wir quälten uns aus dem Bett, duschten und frühstückten. Es herrschte eine unangenehme Stille, die mir die Luft zum Atmen nahm. Wie gerne würde ich irgendwas sagen, ihn trösten und aufmuntern, doch das war in der Situation unmöglich und das schmerzte. Ich hoffte einfach darauf, dass ein Gespräch mit Anna vielleicht offene Fragen klären würde, dass die beiden sich gegenseitig helfen konnten und es den ersten Schock dämpfen konnte.

Gegen späten Vormittag befanden wir uns schon in meinem Auto auf dem Weg zu Annas - und theoretisch auch Johannes' - Wohnung.
Er war nervös, immer noch verkrampft und starrte den Schlüssel in seiner Hand an, als wir vor der Tür standen. Letztendlich entschloss er sich dazu, den Schlüssel wegzustecken und zu klingeln. Es dauerte, bis wir endlich Schritte auf der anderen Seite der Tür hörten. Diese öffnete sich schließlich und eine vollkommen fremde Anna stand vor uns. Sie sah noch mitgenommener aus, als vor wenigen Tagen, als ich sie im Café getroffen habe - natürlich; in der Zwischenzeit hatte sie ein Baby verloren. Das einzige, was ihr von Johannes geblieben wäre. Ein Lebewesen, das in ihr gewachsen ist. Dem sie sicherlich schon in dieser kurzen Zeit eine Menge Liebe geschenkt hatte.
Ich schauderte, als ich sie etwas länger musterte - dieses Wrack von einer einst so starken, selbstbewussten, hübschen Frau war mein Verdienst.

"Willst du deine restlichen Sachen holen?", riss ihre Stimme mich aus meinen Gedanken. Nicci hat ihr wohl nicht gesagt, dass wir Bescheid wüssten, sonst wäre ihr bewusst, warum wir wirklich da waren.
"Umzugskartons stehen schon be..." - "Nein", unterbrach Johannes sie mit vorsichtigem Ton. "Ich bin hier, um zu reden."

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt