Kapitel 61

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"Vielen Dank, Frankfurt, für diesen unglaublichen Abend!", rief Johannes ins Mikrofon, während Niels, Chris und Kris sich bereits neben ihm aufreihten und Arne und ich zusahen, dass wir ebenfalls hinter unseren Instrumenten wegkommen, um uns den anderen anzuschließen. Ich quetschte mich mit einem schiefen Grinsen zwischen Johannes und Niels, welcher nur lachend mit dem Kopf schüttelte, schließlich jedoch freiwillig etwas Platz machte. Wir winkten ins Publikum, warfen Plektren, Drumsticks und unsere Handtücher, verbeugten uns tief und ließen es uns nicht nehmen, noch eine kleine La-Ola-Welle zu starten. Für ein paar weitere Sekunden genossen wir noch einmal das laute Jubeln der Fans, sogen all die Energie ins uns auf, während wir die Arme um die Nebenmänner geschlungen hatten und uns ein weiteres Mal bewusst wurde, was für ein Glück wir hatten, von unserer Musik leben zu können, damit zu touren, all die Städte und die Menschen kennenzulernen. Meine rechte Hand rutschte in Johannes' hintere Hosentasche, woraufhin er mich sanft in die Seite pikte. Und ich war glücklich. Mein Freund neben mir, mit meinen besten Freunden auf der Bühne, auf der wir unsere Leidenschaft auslebten. Für einen kurzen Augenblick fühlte sich alles so unendlich perfekt an.

"Auf uns! Auf diesen Abend, Frankfurt, die Liebe, die Freundschaft, Johannes und Jakob und darauf, dass schwul verdammt nochmal cool ist!", grölte Kris aufgekratzt, nachdem wir schon vier Male zuvor auf genau dieselben Dinge angestoßen hatten. "Und auf mich natürlich." Ok, das war neu, aber es war klar, dass so etwas früher oder später auch noch von Kris kommen würde. Spätestens in seinem angeschwipstem Zustand; und allem Anschein nach hatte er den bereits erreicht - das hat verhältnismäßig ziemlich lang gedauert. So oft, wie wir Alkohol zu uns nahmen, sollte man meinen, wir seien trinkfest, doch Kris war immer wieder der Gegenbeweis schlechthin.
Wie exten den abscheulichen Schnaps, von dem ich nicht wissen wollte, was genau es war, in einem Zug und ich schauderte kurz, bevor Johannes mich ruckartig an meiner Hüfte packte und mich an sich zog. Seine rauen Lippen pressten sich auf meine, während seine Finger sich in mein Shirt krallten - nur für einen kurzen Moment, aber lang genug, dass es mich zum Grinsen brachte. "Ich liebe dich", raunte ich, nach einem längeren Blick in dem mir so vertrauten Ausdruck in seinen Augen. Ein Lächeln huschte über Johannes' Gesicht, bevor er mit seinem Daumen die Kontur meiner Unterlippe nachfuhr und ein leises "Ich liebe dich auch" flüsterte.

Es wurde spät und wir würden in spätestens einer Stunde weiterfahren müssen. Ich hatte mich etwas abseits der anderen auf eine kniehohe Mauer gesetzt und schaute meinen betrunkenen Freunden dabei zu, wie sie albern tanzten, herum scherzten und lauthals über jede Kleinigkeit lachten. Ich war der einzige, der rechtzeitig auf Cola und Wasser umstieg, um am kommenden Morgen nicht vollkommen durchzuhängen - der Schlafmangel würde seinen Beitrag schon leisten. Das Etikett meiner Colaflasche war fast schon komplett abgeknibbelt, als Johannes in meine Richtung taumelte, mich allerdings gar nicht wahrzunehmen schien. Er hatte seinen Kopf in den Nacken gelegt, weshalb er hin und wieder über seine eigenen Füße stolperte, und zählte nuschelnd vor sich hin. Warum er dabei in den Himmel starren musste, an dem nicht einmal Sterne zu sehen waren, die man hätte zählen können, wusste ich nicht, aber Johannes' Zählerei im vollkommen vernebelten Zustand war ja sowieso eine mysteriöse Eigenschaft.
Völlig auf seine Zahlen konzentriert, ließ Jo sich nur wenige Meter neben mir plump auf die Mauer fallen und begann, einzelne Grashalme aus dem Boden zu ziehen: "62, 63, ähh..." Schmunzelnd schüttelte ich mit dem Kopf, stand auf und setzte mich neben ihn, was er allerdings überhaupt nicht mitbekam. "Joha..." - "64!", unterbrach er mich enthusiastisch, als hätte er mich gar nicht gehört, und grinste von einem bis zum anderen Ohr. Er sah auf und zuckte zusammen, als er mich entdeckte, bevor er voller Begeisterung "Jay!" rief und seine Arme um meinen Oberkörper schlang. Ziemlich unsanft presste er mich an sich, während sein Bart an meinem Hals kratzte und er mir die Luft abschnürte. "Ganz ruhig", lachte ich und drückte ihn sanft von mir weg, woraufhin er seine Unterlippe vorschob und mich traurig ansah. Allerdings genügte ein Kuss auf die Wange, um ihn wieder zum Grinsen zu bringen - er glich betrunken nunmal immer wieder einem Kleinkind.

"Hat Kris dich wirklich so abgefüllt?", fragte ich amüsiert, nachdem ich eine Weile Johannes' eingeschränkte motorische Fähigkeiten beobachtet hatte, die ihm sogar beim simplen Grashalmzupfen Schwierigkeiten bereiteten. "Nein, das war ich selbst." Skeptisch zog ich meine Augenbrauen zusammen und hoffte auf eine Weiterausführung seines - zugegeben recht unverständlichen - Genuschels, doch da nichts kam, musste ich selbst nachfragen: "Wie? Warum?" - "Weil ich so Angst habe. Vor Samstag, verstehst du?" Natürlich verstand ich. Samstag würde der Artikel mit unserem Outing veröffentlicht werden und ich fürchtete mich ebenfalls vor den Reaktionen. Nachdem die anfängliche Euphorie und die Erleichterung nach dem Interview verebbt war, machte sie erneut der Angst Platz. Seufzend legte ich meinen Arm um Johannes, der nebenbei immer noch mit dem Gras spielte, und schwieg. Ich wusste nicht, wie ich ihn aufbauen sollte, wenn es mir selbst doch nicht anders ging, als ihm. Aber scheinbar hatte er nach nur wenigen Sekunden auch wieder vergessen, dass es da etwas gab, auf das ich hätte antworten können - und vielleicht auch müssen -, denn er begann wieder zu zählen und ich lauschte einfach nur seiner warmen Stimme und zum ersten Mal war ich seiner sonst nervigen Eigenschaft dankbar; sie schien uns beide etwas zu beruhigen.

"Warum zählst du eigentlich immer, wenn du betrunken bist?", unterbrach ich ihn, als er bei 87 angelangt war. Im nüchternen Zustand konnte er sich fast nie daran erinnern, überhaupt gezählt zu haben, weshalb jetzt der einzig richtige Zeitpunkt war, um vielleicht eine Antwort zu erhalten. Johannes richtete sich auf und sah mich an, während sein linker Mundwinkel nach oben zuckte: "Ich könnte dir jetzt erzählen, dass ich dann immer schöne Erinnerungen in meinem Leben zähle oder die Dinge, für die ich dich liebe..." Er stockte, stupste mit seinem Zeigefinger einmal auf meine Nase und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. "Aber ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, was oder wieso ich immer zähle." Er lächelte breit - so breit, dass es fast schon dämlich aussah und ich mir ein Lachen verkneifen musste, bevor ich wieder ernst wurde: "Das mit den Dingen, für die du mich liebst hätte ich dir eh nicht abgekauft. Das höchste, was ich miterlebt habe, bis wohin du gezählt hast, war immerhin 341." Johannes runzelte seine Stirn und schüttelte sanft mit dem Kopf: "Ja, und?" - "Naja, 341; das wären..." - "...nicht ansatzweise alle Dinge", vollendete er meinen Satz, den ich so garantiert nicht im Kopf hatte. "Ich könnte dir mindestens das doppelte aufzählen. Ach, was sag' ich? Das zehnfache!" Ich wandte meinen Blick von ihm ab und schaute zu Boden, während ich die aufkommende Hitze in meinen Wangen spürte. Doch Johannes nahm mein Gesicht in seine Hände und zwang mich dazu, ihn anzusehen. Er war mir so nah, dass ich seine Alkoholfahne deutlich riechen konnte und mir war jetzt schon bewusst, wie sehr er in einigen Stunden unter einem Kater leiden würde. "Ich liebe dich, Jay. Alles an dir." Und dann presste er seine Lippen auf meine. So leidenschaftlich, als wolle er damit seinen Worten noch mehr Nachdruck verleihen. Seine Hand vergrub sich in meinen Haaren, während die andere an meiner Seite entlang, bis unter mein Shirt, fuhr.
"Wir haben noch ungefähr dreißig Minuten, bevor der Bus losfährt", keuchte er gegen meine Lippen, bevor seine sich zu einem dreckigen Grinsen formten. "Das sollten wir hinkriegen", erwiderte ich sofort ohne zu überlegen - seine Küsse schafften es jedes Mal aufs neue, mein Gehirn komplett abzuschalten. Sonst hätte ich mich vermutlich nicht darauf eingelassen - unter anderem, da wir es den Jungs hoch und heilig versprochen hatten. Doch in diesem Moment konnte ich nicht darüber nachdenken; Johannes stand auf, zog mich an meinem Kragen mit auf die Beine und hinter sich her in den Tourbus.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt