Kapitel 103

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Niels, dessen dringender Wunsch es überhaupt gewesen ist, unbedingt ein Trinkspiel nach dem nächsten zu spielen, klinkte sich als allererster aus und im Nachhinein betrachtet, hätte ich definitiv mitziehen sollen, doch mein schon leicht benebeltes Gehirn wollte noch mehr von den süßlichen oder kräuterlastigen Schnapssorten, deren Geschmäcker hin und wieder mit Bier neutralisiert wurden.
Als Niels also gegangen war, um sich auch den anderen Gästen zu widmen, blieben abgesehen von Johannes, Kris, Rick und mir noch Markus, Sebastian und Daniel am Tisch übrig - alte Freunde aus Niels' Studienzeit, mit denen wir schon öfter mal einen getrunken hatten. Oder eben auch mehrere Flaschen. Auch ohne den Gastgeber beschäftigten wir uns weiter mit sämtlichen Trinkspielen, die mehr aus Trinken als aus Spielen bestanden, doch ab einem gewissen Pegel war einem das sowieso egal.

"Jo, du bist zu nüchtern!" Nörgelnd rüttelte Daniel an der Schulter des Sängers, der lachend die Augen verdrehte. Tatsächlich, wenn ich mal so darüber nachdachte, hatte Johannes in den letzten Stunden kaum Hochprozentiges getrunken. Normalerweise war er für sinnloses Trinken immer zu haben, doch jetzt war er nicht einmal wirklich beschwipst.
"Dafür, dass wir gerade mal halb elf haben und zumindest drei von euch wahrscheinlich morgen arbeiten müssen, seid ihr definitiv zu betrunken." - "Also ich für meinen Teil", begann Sebastian lallend und mit erhobenen Zeigefinger sich einzumischen, "habe mir morgen extra frei genommen. Komm schon, Strati, wir sehen uns so selten, dann müssen wir auch ordentlich was saufen!" - "Tut mit leid, aber heute passe ich." Schulterzuckend schob Johannes das kleine Schluckgläschen mit roter Flüssigkeit darin von sich weg, woraufhin Kris augenblicklich danach griff und augenrollend "Langweiler" zischte, ehe er den Inhalt des Pinnchens selbst leerte und wir restlichen sechs unbeirrt weiterspielten, während Jo uns nur dabei zusah.

Gegen ein Uhr hing ich bereits die meiste Zeit mit dem Kopf auf dem Tisch, wollte möglichst wenig reden und einfach nur den Schwindel überstehen, der mir pausenlos das Gefühl gab, augenblicklich von der Bank zu fallen. Rick musste irgendwo anders sein - jedenfalls wurde er vor ungefähr zwanzig Minuten von irgendwelchen Bekannten von Niels zum Dart aufgefordert, wobei ich nicht so ganz wusste, ob man in diesem Zustand, in dem sich fast jeder in dieser Kneipe befand, wirklich mit kleinen, spitzen Pfeilen auf eine Scheibe werfen sollte.
Während Benni, ein guter Freund der Band, Chris und Kris, mit denen ich mittlerweile zusammensaß, sich ausgelassen unterhielten und ich eh nicht richtig aufnahmefähig war, entschloss ich mich dazu, meinen Freund zu suchen und zu schauen, wie viele Menschen er schon mit Dartpfeilen getroffen hatte.

Ich schob mich seufzend und schwach von der Bank, ließ meinen Blick kurz umher schweifen und taumelte dann einfach drauf los, ohne meinen Beinen Beachtung zu schenken, die sich viel zu wackelig anfühlten, um zu gehen. Dies war nach wenigen Schritten auch der Grund, weshalb ich drohte, mein Gleichgewicht zu verlieren und mich urplötzlich in den Armen von Johannes wiederfand, der mich im letzten Moment noch halten und stützen konnte: "Wow, nicht so stürmisch", lachte er, ehe sein Gesichtsausdruck, der vor meinen Augen ständig verschwamm, plötzlich ernst und besorgt wurde, "Hey, alles ok?" - "Mir ist schlecht", murmelte ich und legte nun auch meinen Arm um Jos Schultern, um noch mehr Halt zu haben, da sich alles um mich herum schrecklich drehte. Der Sänger seufze kurz auf, ehe er sich, ohne mich loszulassen, zum Tresen wandte, ein Wasser bestellte, mich anschließend kurzentschlossen aus der Kneipe schleifte und mich dazu zwang, ein paar Schritte mit ihm zu gehen, um mein Gehirn mit frischem Sauerstoff zu versorgen.
"Hier, setz dich." Seine Stimme klang fürsorglich, als wir nach einigen Metern eine alte Bank erreichten, die etwas abseits lag. Johannes reichte mir das Wasser, welches ich in einem Zug leerte, und tatsächlich fühlte ich mich schnell wesentlich besser, als eben noch drinnen.

"Er macht dich nicht glücklich", stellte Jo nach einigen Minuten kühl fest, in denen wir nur stumm nebeneinander auf dieser Bank saßen, geradeaus starrten und ich Zeit hatte, wieder wenigstens einigermaßen klar im Kopf zu werden. Mein Blick schweifte zu ihm, während er unbeirrt weiter ins Nichts sah.
"Woher willst du das wissen?" Trotz meines starken Lallens, war mein wütender Unterton nicht zu überhören.
"Ich kenne dich. Er tut dir vielleicht gut, aber du bist nicht glücklich mit ihm. Hab' ich Recht?" Ich schluckte kurz, drehte meinen Kopf dann aber ebenso wieder nach vorne und nickte. Das war keine Frage, für derer Antwort ich erstmal Überlegzeit benötigte: "Ja. Ja, du hast Recht." Ich war nicht glücklich mit Rick. Zumindest nicht so, wie ich es sein sollte. Er war ein toller Mann, aber nicht der Mann, den ich wollte. Den ich begehrte.
"Warum bist du dann mit ihm zusammen?"
Erneut schaute ich zu Johannes, der meinen intensiven Blick dieses Mal allerdings erwiderte, von dem ich dachte, er wäre Antwort genug, doch da ich keine Reaktion erhielt, straffte ich meine Schultern und erklärte kurz: "Du wolltest mich nicht mehr."
Entsetzt riss Johannes die Augen auf, schüttelte heftig mit dem Kopf und widersprach: "Nein, das stimmt nicht, Jay." Er stockte, merkte wohl selbst, dass es Ewigkeiten her war, dass er mich so genannt hatte. Ein Stich zog durch mein Herz.
"Du bist alles, was ich jemals wollte." - "Und trotzdem hast du alles hingeschmissen." Johannes' Adamsapfel bewegte sich deutlich, bevor er den Blick in seinen Schoß lenkte und ich die Bäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtete, wie sie sich sanft im leichten Wind wiegten. Ansonsten war es ruhig - beachte man die nach außen dringende Musik mal nicht, die aus der circa einhundert Meter entfernten Kneipe dröhnte. Keine Menschenseele war zu entdecken und in keiner der in Sichtweite liegenden Wohnungen brannte noch Licht. Mein benebeltes Gehirn genoss diese Situation irgendwie.

Plötzlich spürte ich eine Hand auf meinem Knie. Ich sah zu Johannes, der mir tief in die Augen schaute und mich damit in einen Bann zog - so, wie er es schon immer konnte. "Jay...", flüsterte er und ich neigte mit gerunzelter Stirn fragend meinen Kopf zur Seite. Ich wollte nicht, dass er mich so nannte, dass er mich so berührte, dass ich ihn so ansah.
"Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich es tun. Sofort." - "Kannst du aber nicht", war lediglich meine Antwort und am liebsten hätte ich meinen Blick wieder nach vorne gerichtet, doch ich kam einfach nicht von diesen Augen weg. Sie waren wie eine Droge; ich wusste, dass es mir nicht gut tun würde, und doch hatte ich keine Chance, dagegen anzukämpfen.
Selbst, als Johannes' Hand sich von meinem Knie auf meine Wange legte, konnte ich mich nicht aus meiner Starre lösen. Er neigte sich zu mir vor, ohne sein dunkles Braun von meinem hellen Blau abzuwenden: "Vielleicht können wir die Zeit für einen kurzen Moment zurückdrehen", hauchte er - nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt -, wobei ich seinen warmen Atem auf meinen Lippen spüren konnte.
"Nicht", flehte ich mit vor Aufregung zitternder Stimme. Johannes stoppte und verharrte tatsächlich direkt vor mir. Er machte allerdings auch keine Anstalten, sich wieder von mir zu entfernen und so spürte ich mein rasendes Herz immer schneller pochen.
Sein Blick, seine Lippen, sein Geruch, seine Anwesenheit, er und zuletzt der Alkohol, der meinen Körper beherrschte, sorgten dafür, dass ausgerechnet ich es war, der die Lücke zwischen unseren Gesichtern schloss und ich meine Lippen hart auf seine presste. Es fühlte sich so gut an; so wie früher und vielleicht noch ein bisschen besser. Und er? Er küsste mich natürlich zurück.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt