Kapitel 68

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Mittlerweile war es April und in Hamburg herrschte für seine Verhältnisse sogar ein recht angenehmes Wetter. Ich war an einer Hauswand irgendeines wichtigen Bürogebäudes, aus welchem Johannes eigentlich jeden Moment kommen sollte, angelehnt und beobachtete ein paar vorbeigehende Passanten und eine Gruppe von Kindern, die auf der anderen Straßenseite ein Wettrennen zur nahegelegenen Eisdiele machten und kurz darauf überglücklich mit je einer Waffel und zwei bis drei Kugeln Eis wieder hinaus stolzierten. Zwar war es längst noch nicht so warm, dass man unbedenklich in kurzer Hose 'rauskonnte, aber auch ich genoss die so seltenen Sonnenstrahlen, die mir ins Gesicht fielen und mich heute auch zum ersten Mal in diesem Jahr überzeugt hatten, mir ein T-Shirt anzuziehen und meine Jacke mal zuhause zu lassen.

Erst das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Beobachtungen. Ich suchte, nachdem ich bei den lauten Tönen zunächst zusammengezuckt war, hastig nach meinem iPhone, tastete meine Hosentaschen ab und zückte jenes schließlich, um auf dem Display Niels' Namen zu erkennen: "Hey, was gibt's?" - "Stör' ich?", fragte der Gitarrist. "Nein, ich warte gerade auf Johannes." - "Okay, gut. Kris und ich haben uns zufällig eben im Proberaum getroffen; hättet ihr nachher auch Bock vorbeizukommen? Kleine Session oder so?" Seufzend fuhr ich mir durch die Haare und sah kurz nach rechts und links, als ob mir das die Entscheidung abnehmen würde, obwohl diese eigentlich schon direkt nach der Frage gefallen war. "Können wir das verschieben? Ich hatte eigentlich schon andere Pläne für Johannes und mich, sorry", murmelte ich mit schlechtem Gewissen. Natürlich hätte ich mal wieder Lust, einfach aus Spaß mit den Jungs Musik zu machen, uns unsere eigenen Versionen von Liedern auszudenken, aber das würde wohl warten müssen. "Klar, ist doch nicht schlimm. Morgen passt bestimmt auch, ich frag' Kris nachher mal und schreib' dann in die Gruppe." - "Danke", lächelte ich und starrte auf meine Armbanduhr, da Johannes eigentlich schon mit seinem Termin fertig sein müsste. Doch gleichzeitig hatte ich auch das Gefühl, dass Niels noch etwas anderes auf dem Herzen lag - und ich hatte Recht: "Wie... Wie geht's dir sonst so?" Ich wusste, dass er versuchte, es zu unterdrücken, doch der besorgte Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich nahm es ihm nicht übel; immerhin wusste er seit dem Vorfall und unserem Gespräch auf der Brücke, wie weit mich meine Gedanken und Gefühle bereits vor einigen Jahren fast getrieben hätten und dass niemand etwas davon bemerkt hatte. Vermutlich wollte er einfach nur sicher gehen, dass meine gute Laune, die ich seit einer Weile an den Tag legte, auch echt war und ich nicht nur jeden etwas vorzumachen versuchte - nicht ein weiteres Mal.

"Mir geht's sehr gut! Echt, momentan genieße ich wirklich mein Leben!", war also meine wahrheitsgemäße Antwort, die ich mit einem breiten Grinsen untermalte, bei dem ich mir wünschte, Niels könnte es sehen. Doch scheinbar genügten allein meine Worte, denn ich hörte ein erleichtertes Ausatmen am anderen Ende der Leitung, ehe ich Johannes' Stimme im Eingang, neben dem ich lehnte, wahrnahm. "Ich muss jetzt auflegen. Wir hören später voneinander?" Und damit legte ich auf, steckte mein Handy weg und wartete, bis Jo sein Gespräch mit dem Mann, mit dem er sich zu unterhalten schien, beendete.

Als Johannes dann endlich hinauskam und auf die andere Straßenseite zusteuerte, um zur U-Bahnstation zu gelangen, packte ich ihn an seinem Handgelenk, drehte ihn und zog ihn ruckartig an mich heran: "Hallo, schöner Mann", grinste ich verschmitzt und sah dabei die Überraschung in seinem Gesicht, welche sich schnell zu einem verliebten Lächeln umwandelte: "Jay. Was machst du denn hier?" - "Dich abholen." Ich schlang meine Arme um ihn und drückte meine Lippen auf seine. Ihn zu küssen, löste immer noch ein unglaubliches und so wunderschönes Kribbeln in meinem
Körper aus, wie bei unserem allerersten Kuss; vielleicht fühlte es sich sogar noch besser an - immerhin war das hier ungezwungen und ohne Kameras.

Erst das Räuspern einer älteren Dame ließ uns unseren Kuss unterbrechen und ihren verbitterten Blick realisieren, während sie an uns vorbei stolzierte. Johannes und ich unterdrückten uns ein Lachen, bis die Frau außer Hörweite war und wir uns ein kurzes Gelächter nicht mehr verkneifen konnten. "Weißt du, dass das gerade das erste mal war, dass wir in der Öffentlichkeit von jemand Fremden darauf aufmerksam gemacht wurden, dass unser Geknutsche nervt?", fragte Jo mich sichtlich amüsiert und ein stolzes Grinsen schlich sich auf unser beider Gesichter. Tatsächlich war das ein - wenn auch vielleicht etwas skurriler - Grund zur Freude; unser Outing lag nun mittlerweile knapp vier Wochen zurück und heute war das erste mal, dass Johannes und ich Arm in Arm auf dem Bürgersteig mitten in Hamburg standen und uns küssten. Ansonsten waren wir bisher nur dieses eine mal fast schon nachts nach dem Essen mit Kris und Niels als Pärchen in der Öffentlichkeit zu sehen, doch da war keiner mehr im Park unterwegs gewesen, der uns hätte sehen können. Und die anderen Male, als Johannes und ich zusammen die Wohnung verließen, saßen wir höchstens gemeinsam im Auto auf dem Weg zu irgendeinem wichtigen Termin oder zu seinen Eltern, bei denen wir das Kaffeetrinken schnellstmöglich nachgeholt hatten und die mich so herzlich als Johannes' Freund akzeptiert haben, dass seit spätestens dem Tag an, das Lächeln gar nicht aus meinem Gesicht wegzukriegen war.
Doch es reichte scheinbar auch, wenn Jo oder ich einzeln draußen waren und man uns erkannt hat; manch einer hat uns beleidigt und angepöbelt. Glücklicherweise blieb es meistens allerdings nur bei verbaler Gewalt und allerhöchstens einem kleinen Schubser. Wir entschieden uns aber deshalb dafür, mit dem gemeinsamen Auftreten noch etwas zu warten, bis sich die ganze Aufregung über unsere Beziehung gelegt hat.
Doch als Johannes heute bei seinem Termin und ich alleine zuhause war, entschloss ich mich dazu, nicht mehr länger zu warten. Wir hatten uns geoutet, um uns nicht verstecken zu müssen, sondern uns ständig als Paar zeigen zu können - wann und wo wir wollen. Und genau das würden wir auch ab heute so machen.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt