Kapitel 43

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"Jakob, endlich!" Meine Mutter zog mich direkt in eine liebevolle, feste Umarmung, die ich nur zu gerne erwiderte. Es war jedes Mal schön, sie zu sehen - vielleicht sollte ich wirklich öfter mal vorbeischauen. Der Geruch von einem mir nur zu gut bekannten Parfüm umhüllte mich und ließ Kindheitserinnerungen aufkommen, mich geborgen fühlen und mich wissen, dass ich keine Angst vor dem kommenden Gespräch zu haben brauchte.
Sie ließ mich los und schien erst jetzt Johannes zu bemerken, der geduldig wartete und nervös nach vorne und hinten wippte. "Johannes!", freute sich Mama ein wenig zu enthusiastisch. Die zwei hatten sich schon immer besonders gut verstanden. "Wie lang hab' dich schon nicht mehr gesehen? Komm, lass dich drücken!" Ehe er auch nur die Chance hatte, zu widersprechen - was er wahrscheinlich sowieso niemals getan hätte -, fand auch er sich in den Armen meiner Mutter wieder.
"Nun kommt; dein Vater und dein Bruder warten schon." Meine Mutter scheuchte uns durch den Flur und bevor ich auch nur fragen konnte, was Lukas denn hier machte, fiel dieser mir lachend um den Hals, nahm mich in den Schwitzkasten und wuschelte mir durch meine Haare: "Da ist ja unser Jaki." - "Nenn mich nicht so!", wehrte ich mich ebenso lachend und befreite mich von ihm. Ich hatte ihn zwar seit Weihnachten genauso wenig gesehen, wie meine Eltern - nämlich gar nicht -, aber da sein Beruf als Chirurg ihn so sehr einnahm, dass er nicht einmal Zeit für Telefonate oder ähnliches hatte, war die Freude darüber, ihn überraschenderweise zu sehen, noch größer. Außerdem würde er auf diesem Wege auch gleich von Johannes und mir erfahren, was mir ein weiteres Gespräch ersparte.

Nachdem sich alle ausgiebig begrüßt hatten, setzten wir uns an den gedeckten Tisch in der Küche. Ich ließ meinen Schal, den ich mir im Auto noch schnell umgelegt hatte, um meinem Hals; Johannes 'Kunstwerk' - wie er es bezeichnete - war viel zu präsent, um sich so an einen Tisch mit meinen Eltern zu setzen. Meine Mutter hatte extra für mich vegetarisch gekocht und scheinbar schmeckte es auch den anderen. Wir schlugen uns die Bäuche voll, unterhielten uns ausgelassen und schon wie damals in der Grundschule, wenn irgendwelche meiner Freunde zu Besuch waren, wurde Johannes wie ein Familienmitglied behandelt. Er kannte es gar nicht anders. Als ich ihn 2002 zum ersten Mal mit den anderen Jungs zu einer Bandprobe mitbrachte, schloss meine Mutter ihn seltsamerweise direkt ins Herz - eigentlich war Johannes damals noch dieses arrogante Arschloch und er hatte nicht einmal vor meinen Eltern versucht, sich besser zu benehmen. Damals hatte es mich gewundert, dass er trotzdem so herzlichst willkommen gehießen war, doch jetzt sollte es mir nur Recht sein.

"Also, Junge; was liegt dir auf dem Herzen?", fragte mein Vater mich, nachdem er gerade sein Besteck beiseite gelegt und sich mit einer Serviette den Mund abgewischt hatte. "Wie kommst du darauf, dass ich etwas auf dem Herzen habe?", erwiderte ich verwirrt und meine Mutter musste leise kichern: "Naja, deine SMS heute früh hat uns schon ziemlich gewundert. Es ist schon lange her, dass du uns einfach mal so besuchen gekommen bist." Ich senkte beschämt den Blick und verspürte direkt ein schlechtes Gewissen; ja, ich kam wirklich viel zu selten vorbei. Doch das wurde mir immer erst dann klar, wenn ich mit meinen Eltern zusammensaß und merkte, wie schön und kostbar die Zeit doch mit ihnen ist. "Wir dachten - da du geschrieben hast, du möchtest jemanden mitnehmen -, dass du uns deine neue Freundin vorstellen willst und deswegen haben wir auch Lukas eingeladen. Da du jetzt aber mit Johannes hier bist, ist meine zweite Vermutung, dass eure Band sich plötzlich aufgelöst hat, ihr kein Geld mehr habt und deswegen hier essen müsst", schmunzelte Mama und Johannes und ich mussten tatsächlich kurz auflachen. "Keine Sorge, unsere neue Tour beginnt in einigen Tagen", beruhigte Johannes meine Mutter mit einem Zwinkern, doch anschließend wurde die Stimmung wieder ernst und bedrückend.

"Eigentlich habt ihr mit zwei Sachen recht; erstens liegt mir etwas auf dem Herzen und zweitens...naja..." - "Jetzt rück' schon raus mit der Sprache, Jaki", forderte mich Lukas auf und ich räusperte mich nach einem letzten Blick zu Johannes, der nun auch angespannt war. "Ich wollte euch wirklich meine neue Beziehung vorstellen..." - "Und wieso hast du das Mädchen dann nicht mitgebracht?" Stirnrunzelnd sah mich mein Vater an und ich brachte kein weiteres Wort mehr über meine Lippen. Ich spürte, wie ein paar Tränen in meinen Augenwinkeln brannten; natürlich gingen meine Eltern davon aus, dass es sich um eine sie handeln musste, dennoch versetzte mir diese Tatsache einen Stich.

"Weil es kein Mädchen gibt", erklärte Johannes für mich mit fester Stimme. "Ich bin seine neue Beziehung." Lukas verschluckte sich an einem Schluck Wasser, den er gerade genommen hatte, und verfiel in einen lauten Hustenanfall.
Wir wurden angestarrt. Diese herrschende Stille, die auftrat, nachdem mein Bruder sich beruhigt hatte, zerriss mich und ich hatte Angst, von meiner eigenen Familie verstoßen zu werden. Das Atmen fiel mir schwer und ich wartete sehnlichst auf eine Reaktion - irgendeine; Hauptsache positiv.
Als die erste Träne sich ihren Weg über meine Wange bahnte, griff Johannes sofort nach meiner Hand, strich mit seinem Daumen über meinen Handrücken und gab mir zu spüren, dass er da sei.

"Das...Das ist doch nichts schlimmes", stammelte meine Mutter sichtlich überfordert. "Ganz im Gegenteil; wir lieben Johannes! Also, ich meine..." - "Was sie meint, ist...", unterbrach Papa seine Frau, die dabei war, sich zu verhaspeln. "...dass wir uns für dich freuen, Kind. Wir freuen uns für euch beide!" - "Danke", lächelte Johannes, da ich immer noch kein Wort zu Stande brachte. Mein Vater nickte und lehnte sich wieder nach hinten.
Lukas' Blick lag kritisch auf mir und in seinen Augen entdeckte ich irgendetwas, das ich nicht definieren konnte, das mir aber irgendwie zu Bedenken gab. Ich schaute auf den Boden, hoffte auf eine ähnliche Reaktion, wie die meiner Eltern. Doch auch nach ein paar weiteren scheinbar niemals endenden Sekunden, brachte er kein Wort heraus. "Alles okay, Lukas?", nahm ich nun Johannes' vorsichtige Stimme wahr. Ich war ihm dankbar dafür, dass er merkte, dass ich viel zu große Angst hatte, um irgendetwas zu sagen, und er für mich das Wort ergriff.
"Das fragst ausgerechnet du?", zischte mein Bruder, schnellte dabei mit so viel Schwung auf, dass sein Stuhl, auf dem er eben noch saß, drohte, umzukippen, seine Fäuste ballte und einen Schritt auf Johannes zukam, welcher nun auch aufstand: "Hey, ganz ruhig. Was ist denn los?", fragte dieser behutsam und legte seine Hände auf Lukas' Schultern, der jene sofort abschüttelte: "Fass' mich nicht an!" Seine Stimme wurde lauter und wirkte bedrohlich, während seine Augen böse funkelten. Meine Eltern waren aufgrund Lukas' unerwarteten Reaktion viel zu perplex, um irgendwie zu reagieren.
"Was soll das?", stammelte ich sichtlich überfordert, doch mein Bruder würdigte mich nicht einmal eines Blickes, als er "Halt' deine Klappe, Jakob!" schrie und sich an Johannes vorbei aus der Küche drückte - natürlich nicht, ohne meinen Freund dabei anzurempeln und ein paar Sekunden später die Haustür mit einem lauten Knall hinter sich zuzuschlagen.

Bis zum letzten MomentWo Geschichten leben. Entdecke jetzt